BAG zu Minijobbern: Anspruch auf gleiche Vergütung
18.01.2023 | Auch Teilzeitbeschäftigte müssen - bei gleicher Qualifikation - den gleichen Stundenlohn erhalten wie vollzeitbeschäftigte Kollegen
(BAG, Urteil vom 18.01.2023 - 5 AZR 108/22)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 18.01.2023 (5 AZR 108/22) Folgendes entschieden:
Geringfügig Beschäftigte, die in Bezug auf Umfang und Lage der Arbeitszeit keinen Weisungen des Arbeitgebers unterliegen, jedoch Wünsche anmelden können, denen dieser allerdings nicht nachkommen muss, dürfen bei gleicher Qualifikation für die identische Tätigkeit keine geringere Stundenvergütung erhalten als vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, die durch den Arbeitgeber verbindlich zur Arbeit eingeteilt werden.
Der Kläger ist als Rettungsassistent im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses bei der Beklagten tätig. Diese führt im Auftrag eines Rettungszweckverbandes ua. Notfallrettung und Krankentransporte durch. Sie beschäftigt – nach ihrer Diktion – sog. „hauptamtliche“ Rettungsassistenten in Voll- und Teilzeit, denen sie im Streitzeitraum eine Stundenvergütung von 17,00 Euro brutto zahlte. Daneben sind sog. „nebenamtliche“ Rettungsassistenten für sie tätig, die eine Stundenvergütung von 12,00 Euro brutto erhalten. Hierzu gehört der Kläger.
Die Beklagte teilt die nebenamtlichen Rettungsassistenten nicht einseitig zu Diensten ein, diese können vielmehr Wunschtermine für Einsätze benennen, denen die Beklagte versucht zu entsprechen. Ein Anspruch hierauf besteht allerdings nicht. Zudem teilt die Beklagte den nebenamtlichen Rettungsassistenten noch zu besetzende freie Dienstschichten mit und bittet mit kurzfristigen Anfragen bei Ausfall von hauptamtlichen Rettungsassistenten um Übernahme eines Dienstes. Im Arbeitsvertrag des Klägers ist eine durchschnittliche Arbeitszeit von 16 Stunden pro Monat vorgesehen. Darüber hinaus ist bestimmt, dass er weitere Stunden leisten kann und verpflichtet ist, sich aktiv um Schichten zu kümmern.
Mit seiner Klage hat der Kläger zusätzliche Vergütung in Höhe von 3.285,88 Euro brutto für die Zeit von Januar 2020 bis April 2021 verlangt. Er hat geltend gemacht, die unterschiedliche Stundenvergütung im Vergleich zu den hauptamtlichen Mitarbeitern stelle eine Benachteiligung wegen seiner Teilzeittätigkeit dar. Die Beklagte hält die Vergütungsdifferenz für sachlich gerechtfertigt, weil sie mit den hauptamtlichen Rettungsassistenten größere Planungssicherheit und weniger Planungsaufwand habe. Diese erhielten zudem eine höhere Stundenvergütung, weil sie sich auf Weisung zu bestimmten Diensten einfinden müssten.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Beklagte zur Zahlung der geforderten Vergütung verurteilt.
Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat richtig erkannt, dass die im Vergleich zu den hauptamtlichen Rettungsassistenten geringere Stundenvergütung den Kläger entgegen § 4 Abs. 1 TzBfG ohne sachlichen Grund benachteiligt. Die haupt- und nebenamtlichen Rettungsassistenten sind gleich qualifiziert und üben die gleiche Tätigkeit aus.
Der von der Beklagten pauschal behauptete erhöhte Planungsaufwand bei der Einsatzplanung der nebenamtlichen Rettungsassistenten bildet keinen sachlichen Grund zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. Es ist bereits nicht erkennbar, dass dieser Aufwand unter Berücksichtigung der erforderlichen „24/7-Dienstplanung“ und der öffentlich-rechtlichen Vorgaben zur Besetzung der Rettungs- und Krankenwagen signifikant höher ist.
Auch wenn man unterstellt, dass die Beklagte durch den Einsatz der hauptamtlichen Rettungsassistenten mehr Planungssicherheit hat, weil sie diesen einseitig Schichten zuweisen kann, ist sie hierbei jedoch nicht frei. Sie unterliegt vielmehr ua. durch das Arbeitszeitgesetz vorgegebenen Grenzen in Bezug auf die Dauer der Arbeitszeit und die Einhaltung der Ruhepausen. Die nebenamtlichen Rettungsassistenten bilden insoweit ihre Einsatzreserve. Unerheblich ist, dass diese frei in der Gestaltung der Arbeitszeit sind.
Die Beklagte lässt insoweit unberücksichtigt, dass diese Personengruppe weder nach Lage noch nach zeitlichem Umfang Anspruch auf Zuweisung der gewünschten Dienste hat. Dass sich ein Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers zu bestimmten Dienstzeiten einfinden muss, rechtfertigt in der gebotenen Gesamtschau keine höhere Stundenvergütung gegenüber einem Arbeitnehmer, der frei ist, Dienste anzunehmen oder abzulehnen.
(PM 3/23 v. 18.01.2023)
Ruhezeiten für Beschäftigte: täglich und wöchentlich gesondert zu gewähren
02.03.2023 | Beschäftigte müssen sowohl täglich als auch - nicht zeitlich anrechenbar - in der Woche angemessen ausruhen können; tägliche und wöchentliche Ruhezeiten verfolgen unterschiedliche Zwecke
(EuGH, Urteil vom 02.03.2023 - C-477/21)
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Der EuGH hat mit Urteil vom 02.03.2023 (C-477/21) Folgendes entschieden:
Die tägliche Ruhezeit kommt zur wöchentlichen Ruhezeit hinzu, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht. Dies ist auch dann der Fall, wenn die nationalen Rechtsvorschriften den Arbeitnehmern eine wöchentliche Ruhezeit gewähren, die länger ist als unionsrechtlich vorgegeben.
Ein Lokführer, der bei der ungarischen Eisenbahngesellschaft MÁV-START beschäftigt ist, klagt vor dem Gerichtshof
Miskolc gegen die Entscheidung seiner Arbeitgeberin, ihm keine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden (auf die der Arbeitnehmer gemäß der Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung pro 24-Stunden-Zeitraum Anspruch hat) zu gewähren, wenn diese Ruhezeit einer wöchentlichen Ruhezeit oder einer Urlaubszeit vorausgeht oder dieser nachfolgt.
MÁV-START macht geltend, dass ihr Arbeitnehmer durch ihre Entscheidung in keiner Weise benachteiligt werde, da der im vorliegenden Fall anwendbare Tarifvertrag eine wöchentliche Mindestruhezeit gewähre, die mit mindestens 42 Stunden deutlich über der von der Richtlinie vorgegebenen (24 Stunden) liege.
Der Gerichtshof Miskolc möchte vom Gerichtshof unter anderem wissen, ob nach der Richtlinie eine mit einer
wöchentlichen Ruhezeit zusammenhängend gewährte tägliche Ruhezeit Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist.
In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die tägliche Ruhezeit und die wöchentliche Ruhezeit zwei
autonome Rechte sind, mit denen unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Die tägliche Ruhezeit ermöglicht es dem
Arbeitnehmer, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch
unmittelbar an eine Arbeitsperiode anschließen müssen, aus seiner Arbeitsumgebung zurückziehen. Die
wöchentliche Ruhezeit ermöglicht es dem Arbeitnehmer, sich pro Siebentageszeitraum auszuruhen. Folglich ist
den Arbeitnehmern die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte zu gewährleisten.
Wäre die tägliche Ruhezeit hingegen Teil der wöchentlichen Ruhezeit, würde der Anspruch auf die tägliche Ruhezeit
dadurch ausgehöhlt, dass dem Arbeitnehmer die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Ruhezeit vorenthalten
würde, wenn er sein Recht auf wöchentliche Ruhezeit in Anspruch nimmt. Die Richtlinie beschränkt sich nicht
darauf, allgemein eine Mindestdauer für das Recht auf eine wöchentliche Mindestruhezeit festzulegen, sondern
stellt ausdrücklich klar, dass zu diesem Zeitraum der Zeitraum hinzukommt, der mit dem Recht auf tägliche Ruhezeit
verknüpft ist. Daraus folgt, dass die tägliche Ruhezeit nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist, sondern zu
dieser hinzukommt, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht.
Der Gerichtshof stellt auch fest, dass die im Vergleich zur Richtlinie günstigeren Bestimmungen des ungarischen
Rechts über die Mindestdauer der wöchentlichen Ruhezeit dem Arbeitnehmer nicht andere Rechte nehmen können,
die ihm diese Richtlinie gewährt, insbesondere nicht das Recht auf tägliche Ruhezeit. Daher muss die tägliche
Ruhezeit unabhängig von der Dauer der in der anwendbaren nationalen Regelung vorgesehenen
wöchentlichen Ruhezeit gewährt werden.
(PM 39/23 v. 02.03.2023)
Nicht nur "Ehrenamt": Bei Arbeit im Verein kann Anspruch auf Vergütung bestehen
25.04.2023 | Grundgesetz schützt Vereinsautonomie nicht unbeschränkt - bei weisungsgebundener Arbeit hat Mitglied Rechte wie ein Arbeitnehmer - z.B. Anspruch auf Mindestlohn
(BAG, Urteil v. 25.04.2023 - 9 AZR 253/22)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 25.04.2023 (9 AZR 253/22) Folgendes entschieden:
Das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kann nur von einem Verein in Anspruch genommen werden, der ein hinreichendes Maß an religiöser Systembildung und Weltdeutung aufweist. Andernfalls ist es ihm verwehrt, mit seinen Mitgliedern zu vereinbaren, außerhalb eines Arbeitsverhältnisses fremdbestimmte, weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit zu leisten, sofern diese nicht ähnlich einem Arbeitnehmer sozial geschützt sind.
Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, dessen satzungsmäßiger Zweck „die Volksbildung durch die Verbreitung des Wissens, der Lehre, der Übungen und der Techniken des Yoga und verwandter Disziplinen sowie die Förderung der Religion“ ist. Zur Verwirklichung seiner Zwecke betreibt er Einrichtungen, in denen Kurse, Workshops, Seminare, Veranstaltungen und Vorträge zu Yoga und verwandten Disziplinen durchgeführt werden. Dort bestehen sog. Sevaka-Gemeinschaften. Sevakas sind Vereinsangehörige, die in der indischen Ashram- und Klostertradition zusammenleben und ihr Leben ganz der Übung und Verbreitung der Yoga Vidya Lehre widmen. Sie sind aufgrund ihrer Vereinsmitgliedschaft verpflichtet, nach Weisung ihrer Vorgesetzten Sevazeit zu leisten. Gegenstand der Sevadienste sind zB Tätigkeiten in Küche, Haushalt, Garten, Gebäudeunterhaltung, Werbung, Buchhaltung, Boutique etc. sowie die Durchführung von Yogaunterricht und die Leitung von Seminaren.
Als Leistung zur Daseinsfürsorge stellt der Beklagte den Sevakas Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung und zahlt ein monatliches Taschengeld iHv. bis zu 390,00 Euro, bei Führungsverantwortung bis zu 180,00 Euro zusätzlich. Sevakas sind gesetzlich kranken-, arbeitslosen-, renten- und pflegeversichert und erhalten eine zusätzliche Altersversorgung.
Die Klägerin ist Volljuristin. Sie lebte vom 1. März 2012 bis zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft beim Beklagten am 30. Juni 2020 als Sevaka in dessen Yoga-Ashram und leistete dort im Rahmen ihrer Sevazeit verschiedene Arbeiten. Die Klägerin hat geltend gemacht, zwischen den Parteien habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, und verlangt ab dem 1. Januar 2017 auf der Grundlage der vertraglichen Regelarbeitszeit von 42 Wochenstunden gesetzlichen Mindestlohn iHv. 46.118,54 Euro brutto.
Der Beklagte hat eingewendet, die Klägerin habe gemeinnützige Sevadienste als Mitglied einer hinduistischen Ashramgemeinschaft und nicht in einem Arbeitsverhältnis geleistet. Die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV ermöglichten es, eine geistliche Lebensgemeinschaft zu schaffen, in der die Mitglieder außerhalb eines Arbeitsverhältnisses gemeinnützigen Dienst an der Gesellschaft leisteten.
Das Arbeitsgericht hat – soweit für die Revision von Bedeutung – der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage auf die Berufung des Beklagten abgewiesen.
Die Revision der Klägerin hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Klägerin war Arbeitnehmerin des Beklagten und hat für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG. Sie war vertraglich zu Sevadiensten und damit iSv. § 611a Abs. 1 BGB zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Der Arbeitnehmereigenschaft stehen weder die besonderen Gestaltungsrechte von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften noch die Vereinsautonomie des Art. 9 Abs. 1 GG entgegen.
Der Beklagte ist weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft. Es fehlt das erforderliche Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung. Der Beklagte bezieht sich in seiner Satzung ua. auf Weisheitslehren, Philosophien und Praktiken aus Indien und anderen östlichen und westlichen Kulturen sowie auf spirituelle Praktiken aus Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Taoismus und anderen Weltreligionen. Aufgrund dieses weit gefassten Spektrums ist ein systemisches Gesamtgefüge religiöser bzw. weltanschaulicher Elemente und deren innerer Zusammenhang mit der Yoga Vidya Lehre nicht hinreichend erkennbar.
Auch die grundgesetzlich geschützte Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) erlaubt die Erbringung fremdbestimmter, weisungsgebundener Arbeitsleistung in persönlicher Abhängigkeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses allenfalls dann, wenn zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden. Zu diesen zählt ua. eine Vergütungszusage, die den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn garantiert, auf den Kost und Logis nicht anzurechnen sind. Denn dieser bezweckt die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).
Der Neunte Senat konnte auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend über die Höhe des Mindestlohnanspruchs der Klägerin entscheiden und hat den Rechtsstreit deshalb an das Landearbeitsgericht zurückverwiesen.
(PM 20/23 v. 25.04.2023)
Unvereinbar: Vorsitz im Betriebsrat und Datenschutzbeauftragter
06.06.2023 | Interessenskonflikt: BR-Vorsitzender kann nicht zugleich den betrieblichen Datenschutz überwachen - nötige "Zuverlässigkeit" fehlt angesichts des Umgangs mit personenbezogenen Daten - Abberufung zulässig
(BAG, Urteil vom 06.06.2023 - 9 AZR 383/19)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 06.06.2023 (9 AZR 383/19) Folgendes entschieden:
Der Vorsitz im Betriebsrat steht einer Wahrnehmung der Aufgaben des Beauftragten für den Datenschutz typischerweise entgegen und berechtigt den Arbeitgeber in aller Regel, die Bestellung zum Datenschutzbeauftragten nach Maßgabe des BDSG in der bis zum 24. Mai 2018 gültigen Fassung (aF) zu widerrufen.
Der bei der Beklagten angestellte Kläger ist Vorsitzender des Betriebsrats und in dieser Funktion teilweise von der Arbeit freigestellt. Mit Wirkung zum 1. Juni 2015 wurde er von der Beklagten und weiteren in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaften zum Datenschutzbeauftragten bestellt. Auf Veranlassung des Thüringer Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit widerriefen die Beklagte und die weiteren Konzernunternehmen die Bestellung des Klägers am 1. Dezember 2017 wegen einer Inkompatibilität der Ämter mit sofortiger Wirkung. Nach Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2016/679 vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie (RL) 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung; im Folgenden DSGVO) beriefen sie den Kläger vorsorglich mit Schreiben vom 25. Mai 2018 gemäß Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO als Datenschutzbeauftragten ab.
Der Kläger hat geltend gemacht, seine Rechtsstellung als betrieblicher Datenschutzbeauftragter der Beklagten bestehe unverändert fort. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, Interessenkonflikte bei der Wahrnehmung der Aufgaben als Datenschutzbeauftragter und Betriebsratsvorsitzender ließen sich nicht ausschließen. Die Unvereinbarkeit beider Ämter stellten einen wichtigen Grund zur Abberufung des Klägers dar. Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben.
Die dagegen erhobene Revision der Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Der Widerruf der Bestellung vom 1. Dezember 2017 war aus wichtigem Grund iSv. § 4f Abs. 3 Satz 4 BDSG aF iVm. § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt.
Ein solcher liegt vor, wenn der zum Beauftragten für den Datenschutz bestellte Arbeitnehmer die für die Aufgabenerfüllung erforderliche Fachkunde oder Zuverlässigkeit iSv. § 4f Abs. 2 Satz 1 BDSG aF nicht (mehr) besitzt. Die Zuverlässigkeit kann in Frage stehen, wenn Interessenkonflikte drohen. Ein abberufungsrelevanter Interessenkonflikt ist anzunehmen, wenn der Datenschutzbeauftragte innerhalb einer Einrichtung eine Position bekleidet, die die Festlegung von Zwecken und Mitteln der Verarbeitung personenbezogener Daten zum Gegenstand hat. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls zu würdigen. Diese vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH 9. Februar 2023 – C-453/21 – [X-FAB Dresden]) zu einem Interessenkonflikt iSv. Art. 38 Abs. 6 Satz 2 DSGVO vorgenommene Wertung gilt nicht erst seit Novellierung des Datenschutzrechts aufgrund der DSGVO, sondern entsprach bereits der Rechtslage im Geltungsbereich des BDSG aF.
Die Aufgaben eines Betriebsratsvorsitzenden und eines Datenschutzbeauftragten können danach typischerweise nicht durch dieselbe Person ohne Interessenkonflikt ausgeübt werden. Personenbezogene Daten dürfen dem Betriebsrat nur zu Zwecken zur Verfügung gestellt werden, die das Betriebsverfassungsgesetz ausdrücklich vorsieht. Der Betriebsrat entscheidet durch Gremiumsbeschluss darüber, unter welchen konkreten Umständen er in Ausübung seiner gesetzlichen Aufgaben welche personenbezogenen Daten vom Arbeitgeber fordert und auf welche Weise er diese anschließend verarbeitet. In diesem Rahmen legt er die Zwecke und Mittel der Verarbeitung personenbezogener Daten fest.
Inwieweit jedes an der Entscheidung mitwirkende Mitglied des Gremiums als Datenschutzbeauftragter die Einhaltung der gesetzlichen Pflichten des Datenschutzes hinreichend unabhängig überwachen kann, bedurfte keiner abschließenden Entscheidung. Jedenfalls die hervorgehobene Funktion des Betriebsratsvorsitzenden, der den Betriebsrat im Rahmen der gefassten Beschlüsse vertritt, hebt die zur Erfüllung der Aufgaben eines Datenschutzbeauftragten erforderliche Zuverlässigkeit iSv. § 4f Abs. 2 Satz 1 BDSG aF auf.
(PM 27/23 v. 06.06.2023)
Arbeitszeitbetrug: Verwertung eines "offenen" Videobeweises auch bei Datenschutzverstoß
29.06.2023 | Überführt Videosequenz unredlichen Areitnehmer, ist deren Verwertung auch dann zulässig, wenn Überwacbung nicht in jeder Hinsicht den Datschutzbestimmungen entsprach
(BAG, Urteil vom 29.06.2023 - 2 AZR 296/22)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 29.06.2023 (2 AZR 296/22) Folgendes entschieden:
In einem Kündigungsschutzprozess besteht grundsätzlich kein Verwertungsverbot in Bezug auf solche Aufzeichnungen aus einer offenen Videoüberwachung, die vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers belegen sollen. Das gilt auch dann, wenn die Überwachungsmaßnahme des Arbeitgebers nicht vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Datenschutzrechts steht.
Der Kläger war bei der Beklagten zuletzt als Teamsprecher in der Gießerei beschäftigt. Die Beklagte wirft ihm ua. vor, am 2. Juni 2018 eine sog. Mehrarbeitsschicht in der Absicht nicht geleistet zu haben, sie gleichwohl vergütet zu bekommen. Nach seinem eigenen Vorbringen hat der Kläger zwar an diesem Tag zunächst das Werksgelände betreten. Die auf einen anonymen Hinweis hin erfolgte Auswertung der Aufzeichnungen einer durch ein Piktogramm ausgewiesenen und auch sonst nicht zu übersehenden Videokamera an einem Tor zum Werksgelände ergab nach dem Vortrag der Beklagten aber, dass der Kläger dieses noch vor Schichtbeginn wieder verlassen hat. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich, hilfsweise ordentlich.
Mit seiner dagegen erhobenen Klage hat der Kläger ua. geltend gemacht, er habe am 2. Juni 2018 gearbeitet. Die Erkenntnisse aus der Videoüberwachung unterlägen einem Sachvortrags- und Beweisverwertungsverbot und dürften daher im Kündigungsschutzprozess nicht berücksichtigt werden.
Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts bis auf einen Antrag betreffend ein Zwischenzeugnis Erfolg. Sie führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Dieses musste nicht nur das Vorbringen der Beklagten zum Verlassen des Werksgeländes durch den Kläger vor Beginn der Mehrarbeitsschicht zu Grunde legen, sondern ggf. auch die betreffende Bildsequenz aus der Videoüberwachung am Tor zum Werksgelände in Augenschein nehmen. Dies folgt aus den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts sowie des nationalen Verfahrens- und Verfassungsrechts.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Überwachung in jeder Hinsicht den Vorgaben des Bundesdatenschutzgesetzes bzw. der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) entsprach. Selbst wenn dies nicht der Fall gewesen sein sollte, wäre eine Verarbeitung der betreffenden personenbezogenen Daten des Klägers durch die Gerichte für Arbeitssachen nach der DSGVO nicht ausgeschlossen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Datenerhebung wie hier offen erfolgt und vorsätzlich vertragswidriges Verhalten des Arbeitnehmers in Rede steht. In einem solchen Fall ist es grundsätzlich irrelevant, wie lange der Arbeitgeber mit der erstmaligen Einsichtnahme in das Bildmaterial zugewartet und es bis dahin vorgehalten hat.
Der Senat konnte offenlassen, ob ausnahmsweise aus Gründen der Generalprävention ein Verwertungsverbot in Bezug auf vorsätzliche Pflichtverstöße in Betracht kommt, wenn die offene Überwachungsmaßnahme eine schwerwiegende Grundrechtsverletzung darstellt. Das war vorliegend nicht der Fall.
(PM 31/23 v. 29.06.2023)
Illegale Arbeitnehmerüberlassung: hohe Freiheitsstrafen gegen kriminelle Bande
28.07.2023 | 5 Angeklagte hatten gewerbsmäßiges Leiharbeitssystem betrieben - mehrere Millionen EUR Schaden der Sozialversicherungen - ausbeuterische Arbeitsbedingungen
(LG Berlin, Urteil vom 28.07.2023 - 536 KLs 12/22)
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Die 36. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin – Wirtschaftsstrafkammer – (536 KLs 12/22) hat mit heutigem Urteil heute fünf Angeklagte im Alter von 44 bis 57 Jahren u.a. wegen des gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern zu jeweils mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Zum Teil wurden die Angeklagten auch der tateinheitlich begangenen gewerbs- und bandenmäßigen Urkundenfälschung sowie der Beschäftigung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel und zu ungünstigen Arbeitsbedingungen – bzw. der Beihilfe zu diesen Delikten – für schuldig befunden.
Gegen den 50-jährigen Stanislav Z. verhängte die Kammer eine Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten; er habe sich zusätzlich wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 128 Fällen strafbar gemacht. Der Angeklagte sei der Hauptverantwortliche für ein illegales Leiharbeitersystem gewesen, mit dem die Angeklagten in den Jahren 2018 bis 2021 zum Teil Gewinne in Millionenhöhe gemacht hätten. Allein gegenüber dem Angeklagten Stanislav Z. wurde die Einziehung von sieben Millionen Euro angeordnet, die dieser durch die Taten erlangt haben soll.
Die Angeklagten hätten Menschen aus Nicht-EU-Staaten wie z. B. der Ukraine angeworben, sie mit gefälschten EU-Ausweisdokumenten ausgestattet und sie anschließend illegal in Deutschland beschäftigt. Die Arbeiter seien an zum Teil große Unternehmen im Niedriglohnsektor wie der Lagerhaltung und Kommissionierung überlassen worden. Sie seien in den baltischen Staaten, vor allem in Estland, angemeldet worden, obwohl sie dort nie gearbeitet hätten.
Durch die geringeren Sozialversicherungsbeiträge dort hätten Umsatz und Gewinne in Deutschland maximiert werden können, so der Vorsitzende der Kammer heute in seiner mündlichen Urteilsbegründung. Allein im Tatzeitraum sei ein Umsatz von 30 Millionen Euro erreicht worden, mehr als 1000 Menschen seien in ganz Deutschland beschäftigt worden.
Durch schlechte Arbeitsbedingungen (kein Urlaubsanspruch, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Abzüge für Transport- und Unterkunftskosten) und strikte Strafzahlungen seien die Leiharbeiter diszipliniert worden. Ein Geflecht aus verschiedenen Überlassungs- und Verwaltungsunternehmen im In- und Ausland habe der Verschleierung der kriminellen Machenschaften der Bande gedient. Dem deutschen Steuerzahler sei durch die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen in Deutschland ein Schaden in Höhe von sechs Millionen Euro entstanden.
Gegen einen weiteren Angeklagten, einen 63-jährigen Steuerberater, wurde heute wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt eine Bewährungsstrafe verhängt. Drei weitere, ursprünglich mitangeklagte Männer wurden bereits am 24. Mai 2023 für ihre Beteiligung an den Taten zu Freiheitsstrafen verurteilt, deren Vollstreckung in zwei Fällen zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Dem Verfahren lagen umfangreiche Ermittlungen der Bundespolizei, des Zolls und der Steuerfahndung zu Grunde. Die Hauptverhandlung hatte am 8. Februar 2023 begonnen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Es kann mit dem Rechtsmittel der Revision angefochten werden. Die schriftlichen Urteilsgründe werden erst in einigen Monaten vorliegen.
(PM 19/2023 v. 28.07.2023)
Beleidigungen von Vorgesetzten oder Kollegen in privater Chatgruppe: fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses
24.08.2023 | Verfasser von beleidigenden oder menschenverachtenden Äußerungen über Betriebsangehörige können nicht auf Vertraulichkeit bauen
(BAG, Urteil vom 24.08.2023 - 2 AZR 17/23)
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Das Bundesarbeitsgericht hat vom 24.08.2023 (2 AZR 17/23) Folgendes entschieden:
Ein Arbeitnehmer, der sich in einer aus sieben Mitgliedern bestehenden privaten Chatgruppe in stark beleidigender, rassistischer, sexistischer und zu Gewalt aufstachelnder Weise über Vorgesetzte und andere Kollegen äußert, kann sich gegen eine dies zum Anlass nehmende außerordentliche Kündigung seines Arbeitsverhältnisses nur im Ausnahmefall auf eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung berufen.
Der bei der Beklagten beschäftigte Kläger gehörte seit 2014 einer Chatgruppe mit fünf anderen Arbeitnehmern an. Im November 2020 wurde ein ehemaliger Kollege als weiteres Gruppenmitglied aufgenommen. Alle Gruppenmitglieder waren nach den Feststellungen der Vorinstanz „langjährig befreundet“, zwei miteinander verwandt. Neben rein privaten Themen äußerte sich der Kläger – wie auch mehrere andere Gruppenmitglieder – in beleidigender und menschenverachtender Weise ua. über Vorgesetzte und Arbeitskollegen.
Nachdem die Beklagte hiervon zufällig Kenntnis erhielt, kündigte sie das Arbeitsverhältnis des Klägers außerordentlich fristlos. Beide Vorinstanzen haben der vom Kläger erhobenen Kündigungsschutzklage stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerhaft eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung des Klägers betreffend der ihm vorgeworfenen Äußerungen angenommen und das Vorliegen eines Kündigungsgrundes verneint. Eine Vertraulichkeitserwartung ist nur dann berechtigt, wenn die Mitglieder der Chatgruppe den besonderen persönlichkeitsrechtlichen Schutz einer Sphäre vertraulicher Kommunikation in Anspruch nehmen können. Das wiederum ist abhängig von dem Inhalt der ausgetauschten Nachrichten sowie der Größe und personellen Zusammensetzung der Chatgruppe. Sind Gegenstand der Nachrichten – wie vorliegend – beleidigende und menschenverachtende Äußerungen über Betriebsangehörige, bedarf es einer besonderen Darlegung, warum der Arbeitnehmer berechtigt erwarten konnte, deren Inhalt werde von keinem Gruppenmitglied an einen Dritten weitergegeben.
Das Bundesarbeitsgericht hat das Berufungsurteil insoweit aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Dieses wird dem Kläger Gelegenheit für die ihm obliegende Darlegung geben, warum er angesichts der Größe der Chatgruppe, ihrer geänderten Zusammensetzung, der unterschiedlichen Beteiligung der Gruppenmitglieder an den Chats und der Nutzung eines auf schnelle Weiterleitung von Äußerungen angelegten Mediums eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung haben durfte.
Hinweis:
Der Senat des Bundesarbeitsgerichts hat mit Urteilen vom heutigen Tag in parallel gelagerten Rechtsstreitigkeiten von zwei weiteren Chatgruppen-Mitgliedern in gleicher Weise entschieden.
(PM 33/23 v. 24.08.2023)
Abrufarbeit: Ist nichts geregelt, gelten 20 Wochenstunden
18.10.2023 | Abweichen von der 20-Wochenstunden-Regel bei Arbeit auf Abruf nur möglich, wenn objektive Anhaltspunkte für anderen Parteiwillen vorliegen
(BAG, Urteil vom 18.10.2023 - 5 AZR 22/23)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 18.10.2023 (5 AZR 22/23) Folgendes entschieden:
Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer Arbeit auf Abruf, legen aber die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht fest, gilt grundsätzlich eine Arbeitszeit von 20 Stunden wöchentlich als vereinbart. Eine Abweichung davon kann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nur dann angenommen werden, wenn die gesetzliche Regelung nicht sachgerecht ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, die Parteien hätten bei Vertragsschluss übereinstimmend eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit gewollt.
Die Klägerin ist seit dem Jahr 2009 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Druckindustrie, als „Abrufkraft Helferin Einlage“ beschäftigt. Der von ihr mit einer Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossene Arbeitsvertrag enthält keine Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Die Klägerin wurde – wie die übrigen auf Abruf beschäftigten Arbeitnehmerinnen – nach Bedarf in unterschiedlichem zeitlichen Umfang zur Arbeit herangezogen.
Nachdem sich der Umfang des Abrufs ihrer Arbeitsleistung ab dem Jahr 2020 im Vergleich zu den unmittelbar vorangegangenen Jahren verringerte, hat die Klägerin sich darauf berufen, ihre Arbeitsleistung sei in den Jahren 2017 bis 2019 nach ihrer Berechnung von der Beklagten in einem zeitlichen Umfang von durchschnittlich 103,2 Stunden monatlich abgerufen worden. Sie hat gemeint, eine ergänzende Vertragsauslegung ergebe, dass dies die nunmehr geschuldete und von der Beklagten zu vergütende Arbeitszeit sei. Soweit der Abruf ihrer Arbeitsleistung in den Jahren 2020 und 2021 diesen Umfang nicht erreichte, hat sie Vergütung wegen Annahmeverzugs verlangt.
Das Arbeitsgericht hat, ausgehend von der gesetzlichen Regelung des § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG angenommen, die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit im Abrufarbeitsverhältnis der Parteien betrage 20 Stunden. Es hat deshalb der Klage auf Zahlung von Annahmeverzugsvergütung nur in geringem Umfang insoweit stattgegeben, als in einzelnen Wochen der Abruf der Arbeitsleistung der Klägerin 20 Stunden unterschritten hatte. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.
Die Revision der Klägerin, mit der sie an ihren weitergehenden Anträgen festgehalten hat, blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos.
Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf), müssen sie nach § 12 Abs. 1 Satz 2 TzBfG arbeitsvertraglich eine bestimmte Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit festlegen. Unterlassen sie das, schließt § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG diese Reglungslücke, indem kraft Gesetzes eine Arbeitszeit von 20 Wochenstunden als vereinbart gilt.
Eine davon abweichende Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit kann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nur dann angenommen werden, wenn die Fiktion des § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG im betreffenden Arbeitsverhältnis keine sachgerechte Regelung ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer hätten bei Vertragsschluss bei Kenntnis der Regelungslücke eine andere Bestimmung getroffen und eine höhere oder niedrigere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbart. Für eine solche Annahme hat die Klägerin jedoch keine Anhaltspunkte vorgetragen.
Wird die anfängliche arbeitsvertragliche Lücke zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit bei Beginn des Arbeitsverhältnisses durch die gesetzliche Fiktion des § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG geschlossen, können die Parteien in der Folgezeit ausdrücklich oder konkludent eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbaren. Dafür reicht aber das Abrufverhalten des Arbeitgebers in einem bestimmten, lange nach Beginn des Arbeitsverhältnisses liegenden und scheinbar willkürlich gegriffenen Zeitraum nicht aus. Allein dem Abrufverhalten des Arbeitgebers kommt ein rechtsgeschäftlicher Erklärungswert dahingehend, er wolle sich für alle Zukunft an eine von § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG abweichende höhere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit binden, nicht zu. Ebenso wenig rechtfertigt allein die Bereitschaft des Arbeitnehmers, in einem bestimmten Zeitraum mehr als nach § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG geschuldet zu arbeiten, die Annahme, der Arbeitnehmer wolle sich dauerhaft in einem höheren zeitlichen Umfang als gesetzlich vorgesehen binden.
(PM 42/23 v. 18.10.2023)
Religiöse Neutralität: Behörde darf Bediensteten Kopftuch verbieten
28.11.2023 | EuGH: Verwaltungen dürfen vollständig neutrales Arbeitsumfeld schaffen - Arbeitsordnung nicht diskriminierend, wenn sie auf das gesamte Personal angewandt und auf das absolut Notwendige beschränkt wird
(EuGH, Urteil vom 28.11.2023 - C-148/22)
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Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 28.11.2023 (C-148/22) Folgendes entschieden:
Eine öffentliche Verwaltung kann das sichtbare Tragen von Zeichen, die weltanschauliche oder religiöse
Überzeugungen erkennen lassen, verbieten, um ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen. Eine
solche Regel ist nicht diskriminierend, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf das gesamte Personal dieser
Verwaltung angewandt wird und sich auf das absolut Notwendige beschränkt.
Einer Bediensteten der Gemeinde Ans (Belgien), die als Büroleiterin ganz überwiegend ohne Publikumskontakt tätig
ist, wurde es untersagt, am Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen. Anschließend änderte die Gemeinde ihre
Arbeitsordnung und schrieb in der Folge ihren Arbeitnehmern eine strikte Neutralität vor: Jede Form von
Proselytismus ist untersagt, und das Tragen von auffälligen Zeichen ideologischer oder religiöser Zugehörigkeit ist
allen Arbeitnehmern, auch denen, die keinen Publikumskontakt haben, verboten.
Die Betroffene möchte feststellen lassen, dass sie in ihrer Religionsfreiheit verletzt wurde und diskriminiert wird.
Dem mit dem Rechtsstreit befassten Arbeitsgericht Lüttich stellt sich die Frage, ob die von der Gemeinde
aufgestellte Regel der strikten Neutralität eine gegen das Unionsrecht verstoßende Diskriminierung begründet.
Der Gerichtshof antwortet, dass die Politik der strikten Neutralität, die eine öffentliche Verwaltung ihren
Arbeitnehmern gegenüber durchsetzen will, um bei sich ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen,
als durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann. Ebenso gerechtfertigt ist die
Entscheidung einer anderen öffentlichen Verwaltung für eine Politik, die allgemein und undifferenziert das Tragen
von sichtbaren Zeichen u. a. weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen, auch bei Publikumskontakt,
gestattet, oder ein Verbot des Tragens solcher Zeichen beschränkt auf Situationen, in denen es zu Publikumskontakt
kommt.
Die Mitgliedstaaten und die unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten verfügen nämlich über einen
Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung der Neutralität des öffentlichen Dienstes, die sie in dem für sie
spezifischen Kontext am Arbeitsplatz fördern wollen. Dieses Ziel muss aber in kohärenter und systematischer
Weise verfolgt werden, und die zu seiner Erreichung getroffenen Maßnahmen müssen sich auf das absolut
Notwendige beschränken.
Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob diese Anforderungen erfüllt sind.
(PM Nr. 181/23 v. 28.11.2023)
Krankschreibung "passt" mit Ende des Arbeitsverhältnisses zusammen: Attest ist untauglich
13.12.2023 | Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besteht nicht mehr, wenn sie "passgenau" zur Kündigungsfrist läuft - das gilt sowohl für arbeitgeber- als auch für arbeitnehmerseitige Kündigung
(BAG, Urteil vom 13.12.2023 - 5 AZR 137/23)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 13.12.2023 (5 AZR 137/23) Folgendes entschieden:
Der Beweiswert von (Folge-)Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann erschüttert sein, wenn der arbeitsunfähige Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen, und er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.
Der Kläger war seit März 2021 als Helfer bei der Beklagten beschäftigt. Er legte am Montag, dem 2. Mai 2022, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis zum 6. Mai 2022 vor. Mit Schreiben vom 2. Mai 2022, das dem Kläger am 3. Mai 2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Mai 2022. Mit Folgebescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 wurde Arbeitsunfähigkeit bis zum 20. Mai 2022 und bis zum 31. Mai 2022 (einem Dienstag) bescheinigt. Ab dem 1. Juni 2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf.
Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, der Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Dem widersprach der Kläger, weil die Arbeitsunfähigkeit bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden habe. Die Vorinstanzen haben der auf Entgeltfortzahlung gerichteten Klage für die Zeit vom 1. bis zum 31. Mai 2022 stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte teilweise – bezogen auf den Zeitraum vom 7. bis zum 31. Mai 2022 – Erfolg.
Ein Arbeitnehmer kann die von ihm behauptete Arbeitsunfähigkeit mit ordnungsgemäß ausgestellten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nachweisen. Diese sind das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Deren Beweiswert kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die nach einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers geben.
Hiervon ausgehend ist das Landesarbeitsgericht bei der Prüfung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die während einer laufenden Kündigungsfrist ausgestellt werden, zutreffend davon ausgegangen, dass für die Erschütterung des Beweiswerts dieser Bescheinigungen nicht entscheidend ist, ob es sich um eine Kündigung des Arbeitnehmers oder eine Kündigung des Arbeitgebers handelt und ob für den Beweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden. Stets erforderlich ist allerdings eine einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände. Hiernach hat das Berufungsgericht richtig erkannt, dass für die Bescheinigung vom 2. Mai 2022 der Beweiswert nicht erschüttert ist. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit und dem Zugang der Kündigung ist nicht gegeben.
Nach den getroffenen Feststellungen hatte der Kläger zum Zeitpunkt der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses, etwa durch eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 2 Satz 4 BetrVG. Weitere Umstände hat die Beklagte nicht dargelegt.
Dagegen ist bezüglich der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 6. Mai 2022 und vom 20. Mai 2022 der Beweiswert erschüttert. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit nicht ausreichend berücksichtigt, dass zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist eine zeitliche Koinzidenz bestand und der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen hat. Dies hat zur Folge, dass nunmehr der Kläger für die Zeit vom 7. bis zum 31. Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trägt. Da das Landesarbeitsgericht – aus seiner Sicht konsequent – hierzu keine Feststellungen getroffen hat, war die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
(PM Nr. 45/23 v. 13.12.2023)
Zurruhesetzung eines Polizeibeamten: Aufgelaufene Überstunden sind abzugelten
07.03.2024 | Wird Polizeibeamter aufgrund Dienstunfalls in Ruhestand versetzt und kann bisherige Mehrarbeit nicht (mehr) in Freizeit ausgeglichen werden, muss Dienstherr sie finanziell ausgleichen
(BVerwG, Urteil vom 07.03.2024 - 2 C 2.23)
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Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 07.03.2024 (2 C 2.23) Folgendes entschieden:
Nach den Regelungen des Saarländischen Beamtengesetzes steht dem Dienstherrn für den zeitlichen Ausgleich von Mehrarbeit ein Jahr zur Verfügung. Danach wandelt sich ein Anspruch auf Freizeitausgleich in einen Vergütungsanspruch um.
Sachverhalt:
Der Kläger, zuletzt im Amt eines Polizeikommissars (Besoldungsgruppe A 9 LBesO) im Landesdienst, wurde in den Jahren 2015 und 2016 mehrfach zu Mehrarbeit im Rahmen von Polizeieinsätzen herangezogen. Im September 2016 erlitt er einen Dienstunfall. Daran schlossen sich Krankheitszeiten an, die u. a. durch den zeitlichen Ausgleich geleisteter Mehrarbeitsstunden und Erholungsurlaub unterbrochen wurden.
Mit Ablauf des 31. Juli 2018 ist der Kläger wegen dauernder Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Deshalb beantragte er die finanzielle Abgeltung geleisteter Mehrarbeit im Umfang von 205 Stunden. Die nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren erhobene Klage blieb in beiden Instanzen ohne Erfolg.
Das Bundesverwaltungsgericht hat das Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Urteilsgründe:
Der Dienstherr ist verpflichtet, für angeordnete oder genehmigte Mehrarbeit gemäß § 78 Abs. 3 Satz 2 des Saarländischen Beamtengesetzes (SBG) innerhalb eines Jahres Dienstbefreiung zu gewähren.
Dieser vorrangige Freizeitausgleich darf nur unterbleiben, wenn die Dienstbefreiung aus zwingenden dienstlichen Gründen nicht realisierbar ist. In diesem Fall eröffnet § 78 Abs. 3 Satz 3 SBG die Möglichkeit einer finanziellen Abgeltung. Das Erfordernis entgegenstehender zwingender dienstlicher Gründe beschränkt den Dienstherrn. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, darf der Dienstherr von der angeordneten Dienstbefreiung innerhalb eines Jahres absehen.
Dies ist dann der Fall, wenn der an sich dem Beamten zu gewährende Freizeitausgleich mit großer Wahrscheinlichkeit zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen oder Gefährdungen des Dienstbetriebs führen würde. In der Person des Beamten liegende Gründe, insbesondere Krankheit, zählen dazu nicht.
Nach Ablauf der Jahresfrist ist die Gewährung von Dienstbefreiung nicht mehr möglich. Ein Anspruch des Beamten auf Freizeitausgleich wandelt sich in einen Vergütungsanspruch um.
Das Bundesverwaltungsgericht kann nicht abschließend entscheiden, weil das Berufungsgericht von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig keine Tatsachenfeststellungen insbesondere zu den Zeitpunkten der Einsätze und dem jeweiligen Umfang der erbrachten Mehrarbeitsstunden getroffen hat. Dies führt zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht.
(PM Nr. 8/2024 v. 07.03.2024)
"Überlappender" Urlaub zwischen altem und neuem Job: Ansprüche sind insoweit zu verrechnen
09.03.2024 | Wechselt Arbeitnehmer nach unwirksamer Kündigung zu neuem Arbeitgeber, entsteht zwar auch dort Urlaubsanspruch - soweit sich Ansprüche überschneiden, sind sie gegenüber altem Arbeitgeber anzurechnen
(BAG, Urteil vom 05.12.2023 - 9 AZR 230/22)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 05.12.2023 (9 AZR 230/22) Folgendes entschieden:
Geht ein Arbeitnehmer nach einer rechtswidrigen Kündigung einer anderen Beschäftigung nach, entstehen für den Zeitraum der zeitlichen Überschneidung beider Arbeitsverhältnisse auch dann ungeminderte Urlaubsansprüche sowohl gegenüber dem alten als auch gegenüber dem neuen Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht hätte kumulativ erfüllen können.
In einem solchen Fall ist jedoch zur Vermeidung doppelter Urlaubsansprüche der Urlaub, den der Arbeitnehmer vom neuen Arbeitgeber erhalten hat, in entsprechender Anwendung von § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB auf den Urlaubs- bzw. Urlaubsabgeltungsanspruch gegen seinen alten Arbeitgeber anzurechnen. Die Anrechnung ist kalenderjahresbezogen vorzunehmen.
Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Abgeltung von Urlaub aus den Jahren 2020 und 2021 in Anspruch.
Mit Schreiben vom 23. Dezember 2019 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos. Der dagegen erhobenen Kündigungsschutzklage der Klägerin hat das Arbeitsgericht mit rechtskräftigem Urteil vom 9. September 2020 stattgegeben und festgestellt, dass die Kündigung des Beklagten vom 23. Dezember 2019 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hat. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete aufgrund einer außerordentlichen Kündigung des Beklagten vom 7. Mai 2021 vor Ablauf des Monats Mai 2021.
Während des Kündigungsrechtsstreits war die Klägerin zum 1. Februar 2020 ein Arbeitsverhältnis mit der Firma F eingegangen. Dort erhielt sie im Jahr 2020 an 25 Arbeitstagen und in der Zeit vom 1. Januar bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses an zehn Arbeitstagen Urlaub.
Urteilsgründe:
Nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG setzt der gesetzliche Urlaubsanspruch – dem Grunde nach – allein das Bestehen des Arbeitsverhältnisses voraus. Er steht nicht unter der Bedingung, dass der Arbeitnehmer im Bezugszeitraum eine Arbeitsleistung erbracht hat. Der Umfang des gesetzlichen Urlaubsanspruchs ist nach § 3 Abs. 1 BUrlG zu berechnen. Er bemisst sich nach den regelmäßigen Tagen mit Arbeitspflicht. Diese können sich unterjährig aufgrund verschiedener Umstände ändern. Das kann eine zeitabschnittsbezogene Berechnung erfordern, indem die in § 3 Abs. 1 BUrlG genannten 24 Werktage durch die Anzahl der Arbeitstage im Jahr geteilt und mit der Anzahl der für den Arbeitnehmer maßgeblichen Arbeitstage multipliziert werden.
Danach entspricht der vertragliche Urlaubsanspruch der Klägerin von 30 Werktagen bei der für sie geltenden Fünftagewoche 25 Arbeitstagen Urlaub (20 Tage Mindesturlaub und 5 Tage Mehrurlaub).
Diese – zunächst vom Arbeitsgericht vollzogene – Berechnung hat sich die Klägerin in der Berufungs- und Revisionsinstanz zu eigen gemacht.
Dieser Berechnung steht nicht entgegen, dass die Klägerin nach Zugang der fristlosen Kündigung vom 23. Dezember 2019 keine Arbeitsleistung mehr für den Beklagten erbracht hat. Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC und dem sich daran ausrichtenden § 1 BUrlG ist der Zeitraum ohne Beschäftigung nach Ausspruch einer unwirksamen Kündigung grundsätzlich einem tatsächlichen Arbeitszeitraum gleichzustellen. Dies ist die Konsequenz daraus, dass der Arbeitgeber mit der unwirksamen Kündigung seine Obliegenheit verletzt hat, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Jahresurlaub zu nehmen.
Dies gilt nach den Wertungen des Bundesurlaubsgesetzes auch bei Vorliegen sog. Doppelarbeitsverhältnisse. Für das Entstehen des Urlaubsanspruchs ist ohne Bedeutung, dass der Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess den Fortbestand seines gekündigten Arbeitsverhältnisses geltend macht und währenddessen ein anderes Arbeitsverhältnis eingeht. Wird der Kündigungsschutzklage stattgegeben, bestehen zunächst in beiden Arbeitsverhältnissen Urlaubsansprüche, obwohl der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht gleichzeitig erfüllen konnte.
Wenn der Arbeitnehmer nach einer rechtswidrigen Kündigung einer anderen Beschäftigung nachgegangen ist, besteht zwar nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG für den Zeitraum der zeitlichen Überschneidung beider Arbeitsverhältnisse bis zur Wiederaufnahme seiner Beschäftigung in dem ursprünglichen Arbeitsverhältnis ein Urlaubsanspruch ausschließlich bei seinem neuen Arbeitgeber. Ein Anspruch gegen den ursprünglichen Arbeitgeber steht dem Arbeitnehmer nach dem Unionsrecht insoweit nicht zu. Die Richtlinie 2003/88/EG enthält jedoch „nur“ Mindestvorgaben, die bei ihrer Umsetzung einzuhalten sind (vgl. den ersten Erwägungsgrund zur Richtlinie 2003/88/EG). Diese stehen nationalen Regelungen, die – wie das Bundesurlaubsgesetz – einen höheren Schutz zugunsten des Arbeitnehmers vorsehen, nicht entgegen.
Geht ein Arbeitnehmer ein Doppelarbeitsverhältnis ein, entstehen nach §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG Urlaubsansprüche in beiden Arbeitsverhältnissen. Hinderte bereits das Vorliegen eines Doppelarbeitsverhältnisses per se das Entstehen des Urlaubsanspruchs in einem der Arbeitsverhältnisse, trüge – entgegen der Konzeption des Bundesurlaubsgesetzes – allein der Arbeitnehmer das Risiko der Nichterfüllung seines Urlaubsanspruchs. Vielmehr entsteht gemäß § 4 BUrlG nach erfüllter Wartezeit in jedem Arbeitsverhältnis dem Grunde und der Höhe nach der volle Urlaubsanspruch. Dem entspricht die Regelung in § 6 Abs. 1 BUrlG, der zufolge der Anspruch auf Urlaub nicht besteht, soweit dem Arbeitnehmer für das laufende Kalenderjahr bereits von einem früheren Arbeitgeber Urlaub gewährt worden ist.
Bei einem Wechsel des Arbeitgebers während des Urlaubsjahres steht dem neuen Arbeitgeber keine Anrechnungsbefugnis zu, wenn der frühere Arbeitgeber Urlaub nicht erteilt oder nicht abgegolten hat.
Nach der Regelungssystematik des Bundesurlaubsgesetzes sind Urlaubsansprüche des Arbeitnehmers aus verschiedenen Arbeitsverhältnissen – mit Ausnahme der Regelung in § 6 BUrlG – grundsätzlich unabhängig voneinander zu erfüllen.
Für den Fall, dass ein Arbeitnehmer, den sein früherer Arbeitgeber aufgrund einer unwirksamen Kündigung nicht beschäftigt, mit einem anderen Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis begründet, ohne die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen erfüllen zu können, enthält das Gesetz keine explizite Regelung.
Die Regelungslücke ist durch eine analoge Heranziehung des § 11 Nr. 1 KSchG und des § 615 Satz 2 BGB zu schließen.
Ein im neuen Arbeitsverhältnis gewährter Urlaub, der den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers gegenüber seinem ursprünglichen Arbeitgeber für dasselbe Jahr übersteigt, vermindert nicht den Urlaubsanspruch gegenüber dem ursprünglichen Arbeitgeber im Folgejahr. Dadurch wird sichergestellt, dass der unabdingbare Schutz des gesetzlichen Mindesturlaubs nach §§ 1, 3 Abs. 1, § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG unangetastet bleibt.
Die jahresbezogene Anrechnung gilt im Streitfall nicht nur für den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern auch für den vertraglichen Mehrurlaub.
Die Anrechnung führt im Streitfall zum vollständigen Wegfall des aus dem Jahr 2020 stammenden Urlaubsanspruchs der Klägerin gegen den Beklagten. Auf den der Klägerin für das Jahr 2020 gegen den Beklagten zustehenden Urlaubsanspruch iHv. 25 Arbeitstagen sind die ihr von ihrem neuen Arbeitgeber gewährten 25 Urlaubstage anzurechnen.
YouTube-Video „Wie entsteht eine Lüge“ zum Hamas-Überfall: Kündigung eines Azubi wirksam
22.05.2024 | Kündigung stellt keine Maßregelung dar, sondern berechtigte Wahrnehmung unternehmerischen Interessen - grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit rechtfertigt ein solches YouTube-Video nicht
(ArbG Berlin, Urteil vom 22.05.2024 - 37 Ca 12701/23)
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Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 22.05.2024 (37 Ca 12701/23) Folgendes entschieden:
Die Kündigung eines Auszubildenden während seiner Probezeit ist wirksam, da er ein Video mit dem Titel „Wie entsteht eine Lüge“ über die Berichterstattung seines Arbeitgebers - des Springer-KOnzerns - zum Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bei YouTube eingestellt hatte.
Der Auszubildende hatte im September 2023 eine Ausbildung zum Mediengestalter im Springer-Konzern begonnen. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 bekannte sich der Springer-Konzern eindeutig dazu, zu Israel zu stehen. Der Auszubildende stellte auf der Plattform „Teams“ als Profilbild den Text „I don’t stand with Israel“ ein. Auf YouTube veröffentlichte er unter Verwendung von Bildmaterial seiner Arbeitgeberin ein Video mit dem Titel „Wie entsteht eine Lüge“ zur Berichterstattung der Arbeitgeberin über den Angriff der Hamas auf Israel.
Springer bewertete dies als Angriff auf seine Unternehmenswerte und sprach innerhalb der vereinbarten Probezeit zwei fristlose Kündigungen des Ausbildungsverhältnisses gegenüber dem Auszubildenden aus. Der Auszubildende beruft sich auf seine Meinungsfreiheit und ist der Auffassung, dass die Kündigungen gegen das Maßregelungsverbot des § 612a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) verstießen.
Das Arbeitsgericht hat die erste Kündigung aufgrund einer fehlerhaften Betriebsratsanhörung für unwirksam erachtet, die zweite Kündigung jedoch für wirksam. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das Ausbildungsverhältnis während der Probezeit jederzeit und ohne Verpflichtung zur Angabe eines Grundes gekündigt werden könne. Die Kündigung stelle auch keine Maßregelung dar, sondern eine berechtigte Wahrnehmung der unternehmerischen Interessen. Die grundgesetzlich geschützte Meinungsfreiheit rechtfertige das bei YouTube eingestellte Video nicht.
Gegen das Urteil können beide Parteien Berufung bei dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg einlegen.
(PM Nr. 05/24 vom 23.05.2024)
Weitergabe von Gesundheitsdaten: Kein Schadensersatz, wenn ärztliche Verschwiegenheit gewahrt bleibt
20.06.2024 | Zweifel an Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeiters des MdK: die DSGVO erfordert keine Begutachtung durch "externen" MdK
(BAG, Urteil vom 20.06.2024 - 8 AZR 253/20)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 20.06.2024 (8 AZR 253/20) Folgendes entschieden:
Die Verarbeitung von Gesundheitsdaten durch einen Medizinischen Dienst, der von einer gesetzlichen Krankenkasse mit der Erstellung einer gutachtlichen Stellungnahme zur Beseitigung von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten beauftragt worden ist, kann nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. h DSGVO* auch dann zulässig sein, wenn es sich bei dem Versicherten um einen eigenen Arbeitnehmer des Medizinischen Dienstes handelt. Ein Arbeitgeber, der als Medizinischer Dienst Gesundheitsdaten eines eigenen Arbeitnehmers verarbeitet, ist nicht verpflichtet zu gewährleisten, dass überhaupt kein anderer Beschäftigter Zugang zu diesen Daten hat.
Der beklagte Medizinische Dienst Nordrhein führt ua. im Auftrag der gesetzlichen Krankenkassen medizinische Begutachtungen zur Beseitigung von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit gesetzlich Versicherter durch, und zwar auch dann, wenn der Auftrag seine eigenen Mitarbeiter betrifft. Im letztgenannten Fall ist es – nach den Regelungen in einer zwischen dem Beklagten und dem Personalrat geschlossenen Dienstvereinbarung und einer vom Beklagten erlassenen Dienstanweisung – einer begrenzten Zahl von Mitarbeitern einer jeweils in Düsseldorf und in Duisburg eingerichteten besonderen Einheit (sog. Organisationseinheit „Spezialfall“), gestattet, unter Verwendung eines gesperrten Bereichs des IT-Systems des Beklagten die anfallenden (Gesundheits-)Daten betroffener Arbeitnehmer zu verarbeiten und nach Abschluss des Begutachtungsauftrags Zugang zum elektronischen Archiv zu erhalten. Der Zugriff auf die Daten erfolgt durch den Einsatz personalisierter Softwarezertifikate und darf nur innerhalb vergebener Zugriffsrechte, die sich an den zu erledigenden Aufgaben orientieren, stattfinden. In der Dienstanweisung ist zudem ua. festgelegt, dass für die Beschäftigten am Standort Düsseldorf bestimmte – in einem „Zugriffskonzept“ namentlich benannte – Mitarbeiter (Assistenzkräfte und Gutachter) der Organisationseinheit „Spezialfall“ in Duisburg zuständig sind. Nach der Dienstvereinbarung zugangsberechtigt sind außerdem – wiederum ausschließlich zur Erledigung ihrer Aufgaben – die Mitarbeiter der beim Beklagten standortübergreifend in Düsseldorf eingerichteten IT-Abteilung, der im Streitzeitraum neun Beschäftigte angehörten.
Der Kläger war zuletzt als Systemadministrator und Mitarbeiter „Helpdesk“ in der IT-Abteilung des Beklagten tätig. Seit November 2017 war er ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Ab Mai 2018 bezog er von seiner gesetzlichen Krankenkasse Krankengeld. Diese beauftragte im Juni 2018 den Beklagten mit der Erstellung einer gutachtlichen Stellungnahme zur Beseitigung von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers. Eine bei dem Beklagten angestellte Ärztin, die der Organisationseinheit „Spezialfall“ in Duisburg angehörte, fertigte ein Gutachten, das die Diagnose der Krankheit des Klägers enthielt. Vor Erstellung des Gutachtens holte die Ärztin bei dem behandelnden Arzt telefonisch Auskünfte über den Gesundheitszustand des Klägers ein. Nachdem der Kläger über seinen behandelnden Arzt von dem Telefonat Kenntnis erlangt hatte, kontaktierte er eine Kollegin aus der IT-Abteilung, die auf seine Bitten im Archiv nach dem Gutachten recherchierte, hiervon mit ihrem Mobiltelefon Fotos machte und anschließend die Fotos dem Kläger mittels eines Messenger-Dienstes übermittelte.
Mit seiner Klage hat der Kläger vom Beklagten die Zahlung von immateriellem Schadenersatz ua. auf der Grundlage von Art. 82 Abs. 1 DSGVO mit der Begründung verlangt, die Verarbeitung seiner Gesundheitsdaten durch den Beklagten sei unzulässig gewesen. Das Gutachten habe durch einen anderen Medizinischen Dienst erstellt werden müssen; jedenfalls sei die Gutachterin nicht berechtigt gewesen, bei seinem behandelnden Arzt telefonisch Auskünfte einzuholen. Auch seien die Sicherheitsmaßnahmen rund um die Archivierung des Gutachtens unzureichend gewesen. Die unrechtmäßige Verarbeitung seiner Gesundheitsdaten habe bei ihm bestimmte – näher ausgeführte – Sorgen und Befürchtungen ausgelöst.
Zweitinstanzlich hat der Kläger außerdem im Wege der Leistungs- und der Feststellungsklage materiellen Schadenersatz in Gestalt eines ihm entstandenen bzw. künftig entstehenden (Erwerbs-)Schadens mit der Begründung geltend gemacht, die Kenntnis von dem Telefonat zwischen der Gutachterin und seinem behandelnden Arzt habe zu einer Verlängerung seiner Arbeitsunfähigkeit geführt.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision des Klägers blieb vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos.
Die Grundvoraussetzungen eines Schadenersatzanspruchs nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO, die – kumulativ – in einem Verstoß gegen die DSGVO, einem dem Betroffenen entstandenen materiellen und/oder immateriellen Schaden und einem Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und dem Verstoß bestehen, liegen nicht vor. Es fehlt bereits an einem Verstoß gegen die Bestimmungen der DSGVO. Die Verarbeitung der Gesundheitsdaten des Klägers durch den Beklagten war insgesamt unionsrechtlich zulässig. Sie genügte den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs aus der Vorabentscheidung vom 21. Dezember 2023 (- C-667/21 – [Krankenversicherung Nordrhein]), um die ihn der Senat durch Beschluss vom 26. August 2021 (- 8 AZR 253/20 (A) -) ersucht hat. Die Verarbeitung war zur Erstellung der von der gesetzlichen Krankenkasse beauftragten gutachtlichen Stellungnahme, die ihre Grundlage im nationalen Recht hat, zur Beseitigung von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers iSv. Art. 9 Abs. 2 Buchst. h DSGVO erforderlich. Das betrifft auch das zwischen der Gutachterin des Beklagten und dem behandelnden Arzt des Klägers geführte Telefonat. Die Datenverarbeitung genügte zudem den Garantien des Art. 9 Abs. 3 DSGVO, da sämtliche Mitarbeiter des Beklagten, die Zugang zu Gesundheitsdaten des Klägers hatten, einer beruflichen Verschwiegenheitspflicht bzw. jedenfalls dem Sozialgeheimnis, das die Mitarbeiter des Beklagten auch untereinander zu beachten haben, unterlagen. Das Unionsrecht enthält in den genannten Bestimmungen keine Vorgabe, wonach in einem Fall wie dem Vorliegenden ein anderer Medizinischer Dienst mit der Gutachtenerstellung beauftragt werden müsste oder sichergestellt werden müsste, dass kein anderer Arbeitnehmer des beauftragten Medizinischen Dienstes Zugang zu Gesundheitsdaten des Betroffenen erhält. Entsprechende Beschränkungen der (Gesundheits-)Datenverarbeitung, die die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 4 DSGVO einführen oder aufrechterhalten dürfen, sind im nationalen (deutschen) Recht nicht enthalten.
Die Datenverarbeitung durch den Beklagten war auch im Übrigen rechtmäßig. Sie erfüllte die allgemeinen Bedingungen für eine rechtmäßige Verarbeitung des neben Art. 9 DSGVO anwendbaren Art. 6 DSGVO. Die vom Beklagten hinsichtlich der Wahrnehmung seiner gesetzlichen Aufgaben als Medizinischer Dienst zum Schutz der Gesundheitsdaten eigener Mitarbeiter getroffenen organisatorischen und technischen Maßnahmen wurden überdies den im Unionsrecht verankerten Grundsätzen der Integrität und Vertraulichkeit gerecht. Davon war umso mehr auszugehen als der einzige nachgewiesene Fall eines unberechtigten Zugriffs auf Gesundheitsdaten eines Beschäftigten, die der Beklagte als Medizinischer Dienst verarbeitet hat, auf eine Initiative des Betroffenen selbst – hier des Klägers – zurückzuführen war.
(PM 18/24 v. 20.06.2024)
Tariflicher Feiertagszuschlag: maßgeblich ist der regelmäßige Beschäftigungsort
01.08.2024 | Auch bei Abordnung in ein anderes Bundesland: Zuschläge nach TV-L richten sich nach dem am vertraglichen Arbeitsort geltenden Bestimmungen
(BAG, Urteil vom 01.08.2024 - 6 AZR 38/24)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 01.08.2024 (6 AZR 38/24 –) Folgendes entschieden:
Für Beschäftigte, die unter den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) fallen, richtet sich der Anspruch auf Feiertagszuschläge danach, ob am regelmäßigen Beschäftigungsort ein gesetzlicher Feiertag ist.
Der Kläger, dessen regelmäßiger Beschäftigungsort in Nordrhein-Westfalen liegt, nahm auf Anordnung seines Arbeitgebers vom 1. bis 5. November 2021 an einer Fortbildungsveranstaltung in Hessen teil. Das auf den 1. November fallende Hochfest Allerheiligen ist zwar nach dem Feiertagsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen gesetzlicher Feiertag, nicht jedoch nach den für das Bundesland Hessen geltenden landesrechtlichen Bestimmungen. Vor diesem Hintergrund streiten die Parteien darüber, ob dem Kläger gleichwohl für die am 1. November 2021 von ihm in Hessen unstreitig erbrachte Arbeitsleistung Feiertagszuschläge zustehen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen.
Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg.
Dem Kläger stehen die begehrten Feiertagszuschläge zu. Für den Zuschlagsanspruch ist nach den tariflichen Regelungen des TV-L der regelmäßige Beschäftigungsort maßgeblich. Dieser lag im Streitfall in Nordrhein-Westfalen.
(PM Nr.20/24 v. 01.08.2024)
Duschzeit als vergütungspflichtige Arbeitszeit: Arbeitsschutz oder Zumutbarkeit maßgeblich
16.08.2024 | Prüfung anhand konkreter Umstände - z.B. nach Technischen Regeln für Arbeitsstätten oder Unzumutbarkeit, „ungewaschen“ Arbeit zu beenden - ggf. genügt auch Reinigung nur von Körperteilen
(BAG, Urteil vom 23.04.2024 – 5 AZR 212/23)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 23.04.2024 (5 AZR 212/23) Folgendes entschieden:
Körperreinigungszeiten gehören zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, wenn sich der Arbeitnehmer bei seiner geschuldeten Arbeitsleistung so sehr verschmutzt, dass ihm ein Anlegen der Privatkleidung, das Verlassen des Betriebs und der Weg nach Hause ohne eine vorherige Reinigung des Körpers im Betrieb nicht zugemutet werden kann.
I.
Der Kläger arbeitet als Containermechaniker bei der Beklagten. Ein Arbeitstag des Klägers gestaltet sich wie folgt: Nach Betreten des Betriebsgeländes begibt er sich zu dem Gebäude, in welchem sich der Umkleideraum mit den Duschen, das Zeiterfassungsterminal und sein Arbeitsplatz befinden. Im ersten Stock zieht er die von der Beklagten gestellte Arbeitskleidung an und verstaut seine private Kleidung im Spind. Danach geht er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, wo sich wenige Meter entfernt das Zeiterfassungsterminal befindet. Dort loggt sich der Kläger ein und gibt weisungsgemäß die von der Beklagten bestimmte Uhrzeit des Schichtbeginns ein. Danach begibt er sich an seinen 30 bis 40 Meter entfernten Arbeitsplatz und nimmt seine eigentliche Tätigkeit auf, die nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts das „In-Ordnung-Bringen“ von Containern, die auf Wechselbrücken geladen werden, umfasst. Dazu gehört – wenn erforderlich – das Abschleifen rostiger und schadhafter Stellen und eine entsprechende Nachlackierung. Bei solchen Arbeiten kann der Kläger von der Beklagten gestellte Handschuhe, Schutzbrille und Atemmaske tragen. Nach der Arbeit begibt er sich zurück zum Umkleideraum und wäscht oder duscht sich. Die verunreinigte Arbeitskleidung lässt er auf Anweisung der Beklagten im Betrieb zur Reinigung. Danach begibt er sich zum Zeiterfassungsterminal und gibt weisungsgemäß die von der Beklagten bestimmte Uhrzeit des Endes der Schicht ein. Dann verlässt er den Betrieb.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Zahlung von zusätzlicher Vergütung – ausgehend von zusätzlich zu vergütender Arbeitszeit von arbeitstäglich 55 Minuten – und die Feststellung der entsprechenden Vergütungsverpflichtung der Beklagten für die Zukunft verlangt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage – ausgehend von arbeitstäglich 20 Minuten vergütungspflichtiger Umkleide- und Körperreinigungszeiten – stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Beklagte – ausgehend von arbeitstäglich 21 Minuten vergütungspflichtiger Umkleide-, Körperreinigungs- und Wegezeiten – verurteilt, an den Kläger zusätzliche Vergütung zu zahlen. Zudem hat es festgestellt, „dass die anfallenden Umkleide- und Duschzeiten sowie die Wege vom Umkleideraum zur Arbeitsstätte des Klägers und zurück Arbeitszeit sind und als solche dem Kläger durch die Beklagte zu bezahlen sind“. Die weitergehende Berufung des Klägers und die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen.
II.
Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der gesamten Klage, während der Kläger die Zurückweisung der Revision beantragt.
Die Revision ist begründet, soweit das Landesarbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung von Vergütung für Umkleide- und Körperreinigungszeiten verurteilt hat. Das Berufungsgericht hat aber zu Unrecht angenommen, dem Kläger seien für jeden Arbeitstag Zeiten in einem Umfang von 21 Minuten zu vergüten.
Um vergütungspflichtige Arbeitszeit handelt es sich regelmäßig bei dem An- und Ablegen einer vom Arbeitgeber vorgeschriebenen und nur im Betrieb zu tragenden Dienstkleidung. Das An- und Ablegen der Dienstkleidung im Betrieb und der damit verbundene Zeitaufwand des Arbeitnehmers beruhen auf der entsprechenden Anweisung des Arbeitgebers zum Tragen der Dienstkleidung. Das Umkleiden ist in diesem Fall ausschließlich fremdnützig. Daher schuldet der Arbeitgeber Vergütung für die durch den Arbeitnehmer hierfür im Betrieb aufgewendete Zeit.
Auch die Wegezeit des Klägers vom Umkleideraum zum Arbeitsplatz und zurück ist Teil der von der Beklagten geschuldeten vergütungspflichtigen Arbeitszeit.
Gemäß § 611a Abs. 2 BGB können auch Körperreinigungszeiten vergütungspflichtige Arbeitszeit sein.
Ob es sich bei Körperreinigungszeiten um vergütungspflichtige Arbeitszeit nach § 611a Abs. 2 BGB handelt, ist höchstrichterlich bislang nicht entschieden.
Die Vergütungspflicht von Körperreinigungszeiten bedarf einer differenzierten Beurteilung. Auszugehen ist von den von der Rechtsprechung zu Umkleidezeiten entwickelten allgemeinen Kriterien. Körperreinigungszeiten sind danach als Arbeitszeit anzusehen, wenn sie mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängen und deshalb ausschließlich der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dienen.
Von einem unmittelbaren Zusammenhang mit der eigentlichen Arbeitsleistung ist zunächst auszugehen, wenn die Körperreinigung durch den Arbeitgeber ausdrücklich angeordnet wird oder wenn zwingende arbeitsschutzrechtliche Hygienevorschriften eine solche verlangen, weil der Arbeitnehmer beispielsweise bei der Arbeit mit gesundheitsgefährdenden Stoffen oder verunreinigten Gegenständen in Berührung kommt Körperreinigungszeiten gehören aber auch dann zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, wenn sich der Arbeitnehmer bei seiner geschuldeten Arbeitsleistung so sehr verschmutzt, dass ihm ein Anlegen der Privatkleidung, das Verlassen des Betriebs und der Weg nach Hause – sei es durch Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs oder durch Nutzung eines eigenen Fahrzeugs – ohne eine vorherige Reinigung des Körpers im Betrieb nicht zugemutet werden kann. Dabei wird regelmäßig nach Art und Umfang der ausgeübten Tätigkeit sowie der getragenen Arbeitskleidung, dem mit der Arbeitsleistung verbundenen Ausmaß der Verschmutzung ud der sich daraus ergebenden erforderlichen Art und Dauer der Körperreinigung zu differenzieren sein.
Die Ganzkörperreinigung (Duschen) gehört allerdings nur dann zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit, wenn sie mit der eigentlichen Tätigkeit und der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Das ist er Fall, wenn die Erbringung der Arbeitsleistung ohne anschließendes Duschen bei wertender Betrachtung nicht möglich erscheint und der gesamte Vorgang – arbeiten und duschen – deshalb fremdnützig ist.
Aber nicht jede im Verlauf eines Arbeitstags auftretende Verschmutzung oder Verunreinigung „erfordert“ damit ein Duschen in dem hier maßgeblichen Sinn, das in unmittelbarem Zusammenhang mit den vom Arbeitgeber zugewiesenen Tätigkeiten steht. Das Waschen, das erforderlich ist, um die übliche Verunreinigung, Schweiß- und Körpergeruchsbildung des Tages zu beseitigen, dient der Befriedigung privater Bedürfnisse; es ist nicht ausschließlich fremdnützig und damit nicht vergütungspflichtig.
Für die Abgrenzung und Beurteilung des jeweiligen Einzelfalls können öffentlich-rechtliche und arbeitsschutzrechtliche Vorschriften, wie zB der Anhang der Arbeitsstättenverordnung (Anforderungen und Maßnahmen für Arbeitsstätten nach § 3 Abs. 1 ArbStättV) und die den Anhang konkretisierenden Technischen Regeln für Arbeitsstätten Orientierungshilfen bieten.
So dürften Duschzeiten vergütungspflichtig sein, wenn der Arbeitnehmer sehr stark schmutzende Tätigkeiten oder Arbeiten mit stark geruchsbelästigenden Stoffen ausübt, er bei seiner Tätigkeit eine körpergroßflächige persönliche Schutzausrüstung trägt oder er Tätigkeiten unter besonderen klimatischen Bedingungen oder bei Nässe verrichtet (vgl. Abschnitt 6 – Waschräume Nr. 6.1 Abs. 1 Kategorie C der Technischen Regeln für Arbeitsstätten Sanitärräume ASR A4.1).
Unter diesen Voraussetzungen wird das Duschen als Arbeitszeit anzusehen sein, weil die Verschmutzung unmittelbar mit der Arbeitsleistung zusammenhängt, die ohne anschließende Ganzkörperreinigung nicht erbracht werden kann. In diesen Fällen ist es dem Arbeitnehmer nämlich wegen der eingetretenen Verschmutzung in der Regel unzumutbar, sich ungeduscht in der Öffentlichkeit zu bewegen oder in seinen PKW zu steigen.
Im Hinblick auf das Duschen anders zu beurteilen sein dürften im Einzelfall die Kategorien der stark (nicht „sehr stark“) schmutzenden und der nur mäßig schmutzenden Tätigkeiten (vgl. Abschnitt 6 – Waschräume Nr. 6.1 Abs. 1 Kategorie B und A der Technischen Regeln für Arbeitsstätten Sanitärräume ASR A4.1). Hier wird regelmäßig das Waschen der verschmutzten Körperteile ausreichen. Die hierfür erforderliche Zeit ist unter denselben Voraussetzungen vergütungspflichtig wie die Duschzeit.
Aufgrund der Vielzahl der Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen ist – soweit eine generelle, zB tarifvertragliche Regelung nicht existiert – jeweils im Rahmen einer Prüfung des konkreten Einzelfalls durch das Tatsachengericht zu entscheiden, welche Art der Körperreinigung erforderlich ist und mit der eigentlichen Tätigkeit und der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Maßstab ist dabei nicht das subjektive Empfinden des einzelnen Arbeitnehmers, sondern die objektivierte Sicht eines verständigen Arbeitnehmers.
Zielvereinbarungen: Arbeitgeber muss initiativ werden, sonst haftet er auf volle Summe
18.09.2024 | Verletzt Arbeitgeber Verhandlungspflicht, muss er ggf. den gesamten Betrag der avisierten Zielprämie zahlen – Arbeitnehmer muss aber „mitmachen“
(BAG, Urteil vom 03.07.2024 - 10 AZR 171/23)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 03.07.2024 (10 AZR 171/23) Folgendes entschieden:
Hat sich der Arbeitgeber vertraglich verpflichtet, mit dem Arbeitnehmer für eine Zielperiode Ziele zu vereinbaren, an deren Erreichen eine Tantieme- oder Bonuszahlung geknüpft ist, erfüllt er diese Vertragspflicht regelmäßig nur, wenn er mit dem Arbeitnehmer Verhandlungen über den Abschluss einer Zielvereinbarung führt und es diesem ermöglicht, auf die Festlegung der Ziele Einfluss zu nehmen.
1.
Die Parteien streiten über Schadensersatz wegen entgangener erfolgsabhängiger variabler Vergütung für das Jahr 2020.
Der Kläger war seit dem 16. März 2020 bei der Beklagten als Development Director für das Ressort Schiffe (Containerschiffe/Hospitalschiffe/Hotelschiffe) beschäftigt. Der Arbeitsvertrag vom 17./25. Februar 2020 (im Folgenden AV) lautet auszugsweise:
„§ 4
Vergütung, freiwillige Leistungen
Der Mitarbeiter erhält für seine Tätigkeit ein festes Jahresgehalt von EUR 180.000,- brutto.
…
Der Mitarbeiter kann darüber hinaus eine erfolgsabhängige variable Vergütung (‚Tantieme‘) erzielen. Die jährliche Tantieme beträgt maximal EUR 180.000,- brutto
…
Die Festlegung einer Tantieme und deren Höhe hängen von dem Erreichen von Zielen ab, deren drei wesentliche Kriterien jedes Jahr, erstmals zum Ende der Probezeit, zwischen dem Mitarbeiter und der Gesellschaft vereinbart werden. Sollten die drei Kriterien nicht zwischen dem Mitarbeiter und der Gesellschaft vereinbart werden, werden diese seitens der Gesellschaft nach billigem Ermessen vorgegeben. Die Tantieme wird je nach Erreichungsgrad der vereinbarten oder vorgegebenen Ziele durch den Arbeitgeber nach seinem Ermessen fixiert. Im Falle des Ein- oder Austritts während eines Kalenderjahres wird eine eventuelle Tantieme zeitanteilig, gerechnet nach Kalendermonaten und für Teile von Kalendermonaten nach Kalendertagen, ausgezahlt.
…..“
Mit E-Mail vom 25. Juni 2020 forderte der Kläger die Beklagte auf, in Verhandlungen über eine Zielvereinbarung einzutreten. Die Geschäftsführerin der Beklagten bat den Kläger daraufhin zunächst mit Schreiben vom 5. August 2020 unter Fristsetzung bis zum 7. August 2020 erfolglos um den Vorschlag einer Zielvereinbarung. Mit einem weiteren Schreiben vom 13. August 2020 übermittelte sie dem Kläger einen Vorschlag der Beklagten für das Kalenderjahr 2020 mit der Bitte um Rückmeldung bis zum 19. August 2020 und kündigte an, bei Rücksprachebedarf bestehe die Möglichkeit, sich an diesem Tag direkt auszutauschen. Am 19. August 2020 übersandte der Kläger der Beklagten einen abweichenden Entwurf zu einer Zielvereinbarung mit der Bitte um Rückmeldung. In der begleitenden E-Mail führte er ua. aus, die von der Beklagten vorgelegte Zielvereinbarung sei unangemessen, da seine bisherigen Tätigkeiten völlig ausgeblendet würden. Eine Zielvereinbarung solle das gesamte Rumpfjahr 2020 abbilden. Die Geschäftsführerin der Beklagten teilte dem Kläger daraufhin mit Schreiben vom 26. August 2020 mit, die Beklagte lehne seinen Gegenvorschlag ab.
Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund ordentlicher, fristgerechter Kündigung des Klägers mit Ablauf des 31. Dezember 2020. Eine Tantieme zahlte die Beklagte an den Kläger nicht.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm zum Schadensersatz verpflichtet, weil sie es unterlassen habe, Zielvereinbarungsverhandlungen zu initiieren und mit ihm nicht über ihren (verspäteten) Vorschlag für eine Zielvereinbarung sowie seinen Gegenvorschlag verhandelt habe. Die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, die Ziele einseitig vorzugeben.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 97.000,00 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 21. Juli 2021 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, ein Anspruch des Klägers auf Schadensersatz bestehe nicht, weil sie berechtigt gewesen sei, die Ziele nach billigem Ermessen vorzugeben. Der Arbeitsvertrag setze für eine ersatzweise Zielvorgabe allein voraus, dass Ziele nicht vereinbart worden seien. Auf die Gründe hierfür komme es nicht an.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen teilweise abgeändert und die Klage iHv. 14.392,86 Euro abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht allein für die Beklagte zugelassenen Revision begehrt diese weiterhin eine vollständige Klageabweisung.
2.
Die Klage ist begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte nach § 280 Abs. 1, 3 iVm. § 283 Satz 1, § 252 BGB Anspruch auf Schadensersatz wegen ihm entgangener erfolgsabhängiger variabler Vergütung („Tantieme“) für das Kalenderjahr 2020 iHv. 82.607,14 Euro brutto. Die Beklagte hat schuldhaft ihre nach § 4.2 Satz 3 AV bestehende Pflicht verletzt, mit dem Kläger für den Zeitraum vom 16. Juni bis zum 31. Dezember 2020 eine Zielvereinbarung abzuschließen. Deren Ersetzung durch eine einseitige Zielvorgabe war nicht zulässig.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die zu erreichenden Ziele und damit die Voraussetzungen der Tantieme nach § 4.2 Satz 3 AV vorrangig im Wege einer jährlich zwischen den Parteien abzuschließenden Zielvereinbarung zu bestimmen waren, und die Beklagte nur nachrangig nach § 4.2 Satz 4 AV berechtigt sein sollte, die Ziele durch einseitige Zielvorgaben im Rahmen billigen Ermessens festzulegen. Von diesem Verständnis gehen auch die Parteien aus.
Zum Abschluss einer Zielvereinbarung ist es bis zum Ablauf der Zielperiode am 31. Dezember 2020 unstreitig nicht gekommen. Die Beklagte war dennoch nicht berechtigt, dem Kläger einseitig Ziele vorzugeben. § 4.2 Satz 4 AV hält einer Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB nicht stand. Die Regelung benachteiligt den Kläger unangemessen.
Nach § 307 Abs. 2 BGB ist eine unangemessene Benachteiligung iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist (Nr. 1) oder wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist (Nr. 2).
Eine vertragliche Regelung, die dem Arbeitgeber als Verwender der Klausel ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht iSd. § 315 BGB einräumt, ist grundsätzlich zulässig. Sie weicht für sich betrachtet nicht vom Gesetz ab, § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB. Das Gesetz sieht die vertragliche Einräumung einseitiger Leistungsbestimmungsrechte vor (§ 315 BGB). Es geht davon aus, dass dies einem berechtigten Bedürfnis des Wirtschaftslebens entsprechen kann und deshalb nicht von vornherein unangemessen ist. § 315 BGB ordnet ausdrücklich an, dass die Bestimmung mangels abweichender Vereinbarung nach billigem Ermessen zu geschehen hat, dass der Gläubiger die Entscheidung des Schuldners gerichtlich überprüfen und sie ggf. durch Urteil ersetzen lassen kann. Dies gilt auch für eine Vereinbarung, wonach der Arbeitgeber berechtigt ist, die Ziele zur Erreichung einer erfolgsabhängigen variablen Vergütung nach billigem Ermessen einseitig vorzugeben (sog. Zielvorgabe).
§ 4.2 Satz 4 AV ist jedoch unangemessen benachteiligend iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BGB und deshalb unwirksam, weil die Klausel es dem Verwender ermöglicht, die vertraglich vereinbarte Rangfolge von Zielvereinbarung und Zielvorgabe zu unterlaufen. In § 4.2 Satz 1 und 3 AV ist nur bestimmt, dass der Mitarbeiter eine Tantieme erzielen kann, deren Festlegung und Höhe von dem Erreichen von Zielen abhängig ist. Eine nähere Konkretisierung und Gewichtung von insoweit zu erreichenden Zielen enthält die Bestimmung nicht. Es ist völlig offen, an welche vom Mitarbeiter zu erreichenden Ziele die Zahlung der Tantieme geknüpft ist. Infolgedessen besteht für die Vereinbarung von Zielen ein weiter Rahmen, der angesichts der Vielzahl denkbarer Ziele und der unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Gewichtung erhebliche Gestaltungsspielräume eröffnet.
§ 4.2 Satz 4 AV ermöglicht es – die Wirksamkeit der Klausel unterstellt – dem Verwender, seinen Gestaltungsspielraum bei der Festlegung der Ziele zu Lasten des Vertragspartners zu erweitern. Er könnte die Verhandlungen über eine Zielvereinbarung grundlos verweigern oder abbrechen, um die erforderliche Konkretisierung und Gewichtung der zu erreichenden Ziele einseitig vorzunehmen. Im Ergebnis wäre dem Mitarbeiter die in § 4.2 AV vorrangig vorgesehene Möglichkeit genommen, zur Wahrung seiner Interessen auf die Festlegung der Ziele Einfluss zu nehmen. Die arbeitsvertraglich vereinbarte Rangfolge von Zielvereinbarung und Zielvorgabe könnte vom Verwender einseitig unterlaufen werden, ohne dass sein Vertragspartner die Möglichkeit hätte, dies zu verhindern. Die Klausel weicht damit von dem allgemeinen Grundsatz ab, dass Verträge und die sich aus ihnen ergebenden Verpflichtungen für jede Seite bindend sind
Hinzu kommt, dass die vertragliche Konstruktion unangemessen iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB ist. Denn sie ist geeignet, den Arbeitnehmer von dem in § 4.2 AV vorrangig vereinbarten freien Aushandeln der Ziele abzuhalten. Der Arbeitnehmer läuft, wenn er in die Verhandlungen über eine Zielvereinbarung Zielvorstellungen einbringt, die von denen des Arbeitgebers abweichen, stets Gefahr, dass der Arbeitgeber Verhandlungen grundlos abbricht und die Ziele einseitig vorgibt. Dies erzeugt bereits im Vorfeld einen unangemessenen Druck, die Vorschläge des Arbeitgebers für eine Zielvereinbarung auch dann zu akzeptieren, wenn die eigenen Vorstellungen davon abweichen.
Nichts anderes ergibt sich, wenn man – worauf die Beklagte in ihrer Revisionsbegründung abstellt – im konkreten Fall die Begleitumstände bei Vertragsschluss berücksichtigt: Nach deren Vortrag sei dem Kläger vor Vertragsschluss ua. mitgeteilt worden, die Beklagte wolle sich die einseitige Festlegung von Zielvorgaben für den Fall vorbehalten, dass man sich mit dem Kläger nicht auf Ziele einige. Sie habe in der Vergangenheit schon schlechte Erfahrungen gemacht, weil sie bei einer Zielvereinbarung immer auf die Mitwirkung des Arbeitnehmers angewiesen sei. Genau diese Erwägung führt aber aus den genannten Gründen zur Unangemessenheit der vertraglichen Regelung.
Die Unwirksamkeit von § 4.2 Satz 4 AV führt nach § 306 Abs. 1 BGB zum ersatzlosen Wegfall der Bestimmung über die Zielvorgabe unter Aufrechterhaltung des Satzes 3. Dies hat zur Folge, dass – wie vom Landesarbeitsgericht im Ergebnis zutreffend angenommen – allein die Grundsätze über die Durchführung und das Scheitern einer Zielvereinbarung anzuwenden sind.
Hat ein Arbeitnehmer nach dem Arbeitsvertrag Anspruch auf einen variablen Gehaltsbestandteil gemäß einer Zielvereinbarung, verpflichtet dies den Arbeitgeber, mit dem Arbeitnehmer Verhandlungen über den Abschluss einer Zielvereinbarung zu führen und ihm realistische Ziele für die jeweilige Zielperiode anzubieten. Das sind Ziele, die der Arbeitnehmer nach einer auf den Zeitpunkt des Angebots bezogenen Prognose hätte erreichen können. Der Arbeitgeber erfüllt diese Vertragspflicht regelmäßig nur dann, wenn er es dem Arbeitnehmer ermöglicht, auf die Festlegung der Ziele Einfluss zu nehmen und bereit ist, diese auszuhandeln. Denn nur so wird dem typischerweise bestehenden Interesse beider Seiten Rechnung getragen, auf die Festlegung der Ziele und deren Gewichtung Einfluss nehmen zu können.
Die Möglichkeit der Einflussnahme ist nur gegeben, wenn der Arbeitgeber den Kerninhalt der von ihm vorgeschlagenen Zielvereinbarung ernsthaft zur Disposition stellt und dem Arbeitnehmer Gestaltungsfreiheit zur Wahrung seiner Interessen einräumt. Dies setzt zumindest voraus, dass sich der Arbeitgeber deutlich und ernsthaft zu Änderungen eines ggf. von ihm unterbreiteten Vorschlags bereit erklärt. Diese Bereitschaft schlägt sich in der Regel in Änderungen des vom Arbeitgeber formulierten Vorschlags nieder. Bleibt es nach gründlicher Erörterung bei dem Vorschlag des Arbeitgebers, kann aber auch dies als das Ergebnis von Verhandlungen gewertet werden. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass der Arbeitnehmer eine vom Arbeitgeber gestellte Zielvereinbarung ohne Weiteres akzeptiert. Allerdings muss der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer erkennbar zu Änderungen an seinem Vorschlag bereit gewesen sein.
Kommt eine Zielvereinbarung nicht zustande und ist die Führung von Verhandlungen einschließlich der Möglichkeit der Einflussnahme des Arbeitnehmers streitig, trägt der Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der ihn entlastenden Umstände.
Die Beklagte hat trotz entsprechender Aufforderung durch den Kläger mit diesem keine Verhandlungen geführt, die den Abschluss einer Zielvereinbarung für die im ersten Beschäftigungsjahr maßgebliche Zielperiode vom 16. Juni bis zum 31. Dezember 2020 ermöglicht hätte. Sie hat ihm zwar mit Schreiben vom 13. August 2020 ihre Zielvereinbarungsvorstellungen mit der Bitte um Rückmeldung bis zum 19. August 2020 übermittelt und erklärt, sie sei bereit, sich mit dem Kläger am 19. August 2020 direkt auszutauschen, sofern zu ihren Zielvorstellungen noch Rücksprachebedarf bestehe. Sie hat jedoch – im Widerspruch zu ihrer Ankündigung – keine Bemühungen um eine einvernehmliche Festlegung der Ziele unternommen, nachdem der Kläger seine abweichenden Zielvorstellungen am 19. August 2020 mitgeteilt und um Rückmeldung gebeten hatte. Vielmehr hat sie Ziele mit Schreiben vom 26. August 2020 einseitig vorgegeben.
Die Beklagte konnte nicht annehmen, der Kläger sei nicht zu Verhandlungen bereit, weil er ihre Zielvorstellungen mit Schreiben vom 19. August 2020 abgelehnt hatte. Der Kläger hat seinen Gegenvorschlag mit der Bitte um eine Rückmeldung der Beklagten verbunden und damit seine Bereitschaft, am Zustandekommen einer Zielvereinbarung mitzuwirken, zum Ausdruck gebracht.
Der Anspruch besteht in noch rechtshängiger Höhe von 82.607,14 Euro brutto.
Der Umfang des zu ersetzenden Schadens richtet sich nach den §§ 249 ff. BGB.
Nach § 252 BGB umfasst der zu ersetzende Schaden auch den entgangenen Gewinn. Dazu gehört auch entgangener Verdienst aus abhängiger Arbeit und damit auch eine Tantiemezahlung. Als entgangen gilt gemäß § 252 Satz 2 BGB der Gewinn, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder nach den besonderen Umständen, insbesondere nach den getroffenen Anstalten und Vorkehrungen, mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte.
Bei der abstrakten Schadensberechnung nach § 252 Satz 2 BGB ist Grundlage für die Ermittlung des dem Kläger zu ersetzenden Schadens die ihm für den Fall der Zielerreichung im Eintrittsjahr 2020 zugesagte, zeitanteilig zu bemessende Tantieme. Sie beläuft sich auf maximal 97.500,00 Euro brutto (180.000,00 Euro brutto x 6,5/12).
Schmähkritik durch Mitglied des Personalrats: Abmahnung ist begründet
06.01.2025 | Öffentlicher Aufruf im Internet: Haltlose Vorwürfe gegen Arbeitgeber weder durch Meinungsfreiheit noch durch Gewerkschaftstätigkeit gedeckt
(ArbG Berlin, Urteil vom 05.12.2024 - 58 Ca 4568/24)
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Das Arbeitsgericht Berlin hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 05.12.2024 (58 Ca 4568/24) Folgendes entschieden:
Die Klage des Arbeitnehmers auf Entfernung der Abmahnung ist unbegründet. Es bestehe ein hinreichender Bezug des Aufrufs zum Arbeitsverhältnis der Parteien. Seine Nebenpflicht zur Rücksichtnahme im Arbeitsverhältnis habe der Arbeitnehmer durch den Aufruf verletzt. Zwar sei wegen der enthaltenen wertenden Elemente von einer Meinungsäußerung auszugehen. Diese überschreite jedoch nach Anlass, Kontext und Zweck die Grenze auch polemischer oder überspitzter Kritik. Es handele sich vielmehr um eine vom Schutz der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz nicht gedeckte Schmähkritik.
Das Arbeitsgericht Berlin hat die Abmahnung gegenüber einem Mitglied der ver.di-Betriebsgruppe bei der Freien Universität Berlin wegen deren Aufrufs im Internet für rechtmäßig angesehen. In dem Aufruf wird der Universität vorgeworfen, sich tarifwidrig, mitbestimmungsfeindlich und antidemokratisch zu verhalten und dadurch den Rechtsruck und den Aufstieg der AfD zu befördern.
Das klagende Vorstandsmitglied der ver.di-Betriebsgruppe steht in einem Arbeitsverhältnis zur beklagten Universität und ist freigestelltes Personalratsmitglied. Der Vorstand der Betriebsgruppe veröffentlichte Ende Januar 2024 auf deren Internetpräsenz einen Aufruf zur Teilnahme an einem Aktionstag unter anderem gegen die AfD. In dem Aufruf heißt es über die beklagte Universität, sie halte Tarifverträge nicht ein, gliedere Tätigkeiten unterer Lohngruppen mit einem hohen Anteil migrantischer Beschäftigter aus, bekämpfe Mitbestimmung und demokratische Prozesse, und gewerkschaftliche Organisierung sei ihr ein Dorn im Auge. Damit fördere die Universität den Rechtsruck und den Aufstieg der AfD.
Die Arbeitgeberin erteilte dem Arbeitnehmer Anfang März 2024 eine Abmahnung und führte in dieser aus, in den zitierten Passagen liege eine ehrverletzende Kritik, die eine Verletzung der Treue- und Loyalitätspflicht im Arbeitsverhältnis darstelle.
Das Arbeitsgericht hat die Klage auf Entfernung der Abmahnung abgewiesen. Es bestehe ein hinreichender Bezug des Aufrufs zum Arbeitsverhältnis der Parteien. Seine Nebenpflicht zur Rücksichtnahme im Arbeitsverhältnis habe der Arbeitnehmer durch den Aufruf verletzt. Zwar sei wegen der enthaltenen wertenden Elemente von einer Meinungsäußerung auszugehen. Diese überschreite jedoch nach Anlass, Kontext und Zweck die Grenze auch polemischer oder überspitzter Kritik. Es handele sich vielmehr um eine vom Schutz der Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Grundgesetz nicht gedeckte Schmähkritik. Für die erhobenen Vorwürfe fehlten Anhaltspunkte in der Realität. So sei etwa die Fremdvergabe von Reinigungsarbeiten im Öffentlichen Dienst üblich.
Das Arbeitsgericht hat weiter angenommen, die Äußerungen seien auch nicht aufgrund der in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz gewährleisteten Koalitionsfreiheit gerechtfertigt. Die Werbung zur Teilnahme an dem Aktionstag sei ebenso wenig Gegenstand des abgemahnten Verhaltens wie die Äußerungen in Bezug auf die Bundesregierung. Allein die Schmähkritik bezogen auf die Universität werde abgemahnt; sie sei auch vom Schutzbereich des Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz nicht erfasst.
Gegen das Urteil kann der klagende Arbeitnehmer Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg einlegen.
(PM 01/25 vom 06.01.2025)
Arbeitgeber hat Zielvorgabe nicht erteilt: Arbeitnehmer hat Schadensersatzanspruch
(BAG, Urteil vom 19.02.2025 - 10 AZR 57/24) mehr
Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 19.02.2025 (10 AZR 57/24) Folgendes entschieden:
Verstößt der Arbeitgeber schuldhaft gegen seine arbeitsvertragliche Verpflichtung, dem Arbeitnehmer rechtzeitig für eine Zielperiode Ziele vorzugeben, an deren Erreichen die Zahlung einer variablen Vergütung geknüpft ist (Zielvorgabe), löst dies, wenn eine nachträgliche Zielvorgabe ihre Motivations- und Anreizfunktion nicht mehr erfüllen kann, grundsätzlich einen Anspruch des Arbeitnehmers nach § 280 Abs. 1, Abs. 3 BGB iVm. § 283 Satz 1 BGB auf Schadensersatz statt der Leistung aus.
Der Kläger war bei der Beklagten bis zum 30. November 2019 als Mitarbeiter mit Führungsverantwortung beschäftigt. Arbeitsvertraglich war ein Anspruch auf eine variable Vergütung vereinbart. Eine ausgestaltende Betriebsvereinbarung bestimmt, dass bis zum 1. März des Kalenderjahres eine Zielvorgabe zu erfolgen hat, die sich zu 70 % aus Unternehmenszielen und 30 % aus individuellen Zielen zusammensetzt, und sich die Höhe des variablen Gehaltsbestandteils nach der Zielerreichung des Mitarbeiters richtet.
Am 26. September 2019 teilte der Geschäftsführer der Beklagten den Mitarbeitern mit Führungsverantwortung mit, für das Jahr 2019 werde bezogen auf die individuellen Ziele entsprechend der durchschnittlichen Zielerreichung aller Führungskräfte in den vergangenen drei Jahren von einem Zielerreichungsgrad von 142 % ausgegangen. Erstmals am 15. Oktober 2019 wurden dem Kläger konkrete Zahlen zu den Unternehmenszielen einschließlich deren Gewichtung und des Zielkorridors genannt. Eine Vorgabe individueller Ziele für den Kläger erfolgte nicht. Die Beklagte zahlte an den Kläger für 2019 eine variable Vergütung iHv. 15.586,55 Euro brutto.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihm zum Schadensersatz verpflichtet, weil sie für das Jahr 2019 keine individuellen Ziele und die Unternehmensziele verspätet vorgegeben habe. Es sei davon auszugehen, dass er rechtzeitig vorgegebene, billigem Ermessen entsprechende Unternehmensziele zu 100 % und individuelle Ziele entsprechend dem Durchschnittswert von 142 % erreicht hätte. Deshalb stünden ihm unter Berücksichtigung der von der Beklagten geleisteten Zahlung weitere 16.035,94 Euro brutto als Schadensersatz zu.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Zielvorgabe sei rechtzeitig erfolgt und habe den Grundsätzen der Billigkeit entsprochen, weshalb ein Schadensersatzanspruch wegen verspäteter Zielvorgabe ausgeschlossen sei. Unabhängig davon könne der Kläger allenfalls eine Leistungsbestimmung durch Urteil nach § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB verlangen. Die Möglichkeit einer gerichtlichen Ersatzleistungsbestimmung schließe Schadensersatzansprüche wegen verspäteter Zielvorgabe aus. Im Übrigen sei die Höhe eines möglichen Schadens unzutreffend berechnet.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr auf die Berufung des Klägers stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagte, wie vom Landesarbeitsgericht zu Recht erkannt, nach § 280 Abs. 1, Abs. 3 BGB iVm. § 283 Satz 1 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz iHv. 16.035,94 Euro brutto. Die Beklagte hat ihre Verpflichtung zu einer den Regelungen der Betriebsvereinbarung entsprechenden Zielvorgabe für das Jahr 2019 schuldhaft verletzt, indem sie dem Kläger keine individuellen Ziele vorgegeben und ihm die Unternehmensziele erst verbindlich mitgeteilt hat, nachdem bereits etwa ¾ der Zielperiode abgelaufen waren.
Eine ihrer Motivations- und Anreizfunktion gerecht werdende Zielvorgabe war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich. Deshalb kommt hinsichtlich der Ziele auch keine nachträgliche gerichtliche Leistungsbestimmung nach § 315 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 BGB in Betracht. Bei der im Wege der Schätzung (§ 287 Abs. 1 ZPO) zu ermittelnden Höhe des zu ersetzenden Schadens war nach § 252 Satz 2 BGB von der für den Fall der Zielerreichung zugesagten variablen Vergütung auszugehen und anzunehmen, dass der Kläger bei einer billigem Ermessen entsprechenden Zielvorgabe die Unternehmensziele zu 100 % und die individuellen Ziele entsprechend dem Durchschnittswert von 142 % erreicht hätte.
Besondere Umstände, die diese Annahme ausschließen, hat die Beklagte nicht dargetan. Der Kläger musste sich kein anspruchsminderndes Mitverschulden iSv. § 254 Abs. 1 BGB anrechnen lassen. Bei einer unterlassenen oder verspäteten Zielvorgabe des Arbeitgebers scheidet ein Mitverschulden des Arbeitnehmers wegen fehlender Mitwirkung regelmäßig aus, weil allein der Arbeitgeber die Initiativlast für die Vorgabe der Ziele trägt.
(PM Nr. 7/25 v. 19.02.2025)
Kündigungsschutzklage: nachträglich zulässig, wenn Schwangerschaft erst "zu spät" festgestellt wird
03.04.2025 | Wird erst nach Zugang einer Kündigung die bereits bestehende Schwangerschaft ärztlich festgestellt, kann die Arbeitnehmerin auch noch nach 3 Wochen Klage erheben
(BAG, Urteil vom 03.04.2025 (2 AZR 156/24)
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Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 03.04.2025 (2 AZR 156/24) Folgendes entschieden:
Erlangt eine Arbeitnehmerin schuldlos erst nach Ablauf der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG Kenntnis von einer beim Zugang des Kündigungsschreibens bereits bestehenden Schwangerschaft, ist die verspätete Kündigungsschutzklage auf ihren Antrag gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 KSchG nachträglich zuzulassen.
Die Klägerin ist bei der Beklagten beschäftigt. Diese kündigte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. Juni 2022. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 14. Mai 2022 zu. Am 29. Mai 2022 führte die Klägerin einen Schwangerschaftstest mit einem positiven Ergebnis durch. Sie bemühte sich sofort um einen Termin beim Frauenarzt, den sie aber erst für den 17. Juni 2022 erhielt.
Am 13. Juni 2022 hat die Klägerin eine Kündigungsschutzklage anhängig gemacht und deren nachträgliche Zulassung beantragt. Am 21. Juni 2022 reichte sie ein ärztliches Zeugnis beim Arbeitsgericht ein, das eine bei ihr am 17. Juni 2022 festgestellte Schwangerschaft in der „ca. 7 + 1 Schwangerschaftswoche“ bestätigte. Ihr Mutterpass wies als voraussichtlichen Geburtstermin den 2. Februar 2023 aus. Danach hatte die Schwangerschaft am 28. April 2022 begonnen (Rückrechnung vom mutmaßlichen Tag der Entbindung um 280 Tage).
Die Klägerin hat gemeint, die Kündigungsschutzklage sei gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 KSchG nachträglich zuzulassen. Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die Vorschrift sei nicht einschlägig. Die Klägerin habe durch den positiven Test binnen der offenen Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG Kenntnis von der Schwangerschaft erlangt. Beide Vorinstanzen haben der Kündigungsschutzklage stattgegeben.
Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.
Die streitbefangene Kündigung ist wegen Verstoßes gegen das Kündigungsverbot aus § 17 Abs. 1 Nr. 1 MuSchG unwirksam. Das Gegenteil wird nicht nach § 7 Halbs. 1 KSchG fingiert. Zwar hat die Klägerin mit der Klageerhebung am 13. Juni 2022 die am 7. Juni 2022 abgelaufene Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG nicht gewahrt. Diese Frist ist zwar mit dem Zugang des Kündigungsschreibens angelaufen.
Der Fristbeginn richtete sich aber nicht nach § 4 Satz 4 KSchG, denn die Beklagte hatte im Kündigungszeitpunkt keine Kenntnis von der seinerzeit bereits bestandenen Schwangerschaft der Klägerin. Die verspätet erhobene Klage war jedoch gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 KSchG nachträglich zuzulassen. Die Klägerin hat aus einem von ihr nicht zu vertretenden Grund erst mit der frühestmöglichen frauenärztlichen Untersuchung am 17. Juni 2022 positive Kenntnis davon erlangt, dass sie bei Zugang der Kündigung am 14. Mai 2022 schwanger war. Der etwas mehr als zwei Wochen danach durchgeführte Schwangerschaftstest vom 29. Mai 2022 konnte ihr diese Kenntnis nicht vermitteln.
In der vom Senat vorgenommenen Auslegung genügt das bestehende System der §§ 4, 5 KSchG und des § 17 Abs. 1 MuSchG den Vorgaben der Richtlinie 92/85/EWG, wie sie der Gerichtshof der Europäischen Union in der Sache „Haus Jacobus“ (EuGH 27. Juni 2024 – C-284/23) herausgearbeitet hat.
(PM Nr. 16/25 v. 03.04.2025)