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Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht


Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter: Fahrerlaubnis ist generell zu entziehen

01.12.2023  |  Wer einen E-Scooter im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit (hier: 1,83 Promille) fährt, verliert regelmäßig seine Fahrerlaubnis - für E-Scooter gilt dasselbe wie für Kraftfahrzeuge
(OLG Braunschweig, Urteil vom 30.11.2023 - 1 ORs 33/23) mehr


Das Oberlandesgericht Braunschweig hat mit Urteil vom 30.11.2023 (1 ORs 33/23) Folgendes entscheiden:

Auch die Fahrt mit einem E-Scooter im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit führt regelmäßig zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis.

Der Angeklagte befuhr in Göttingen in alkoholisiertem Zustand mit einem E-Scooter die Reinhäuser Landstraße. Bei einer Kontrolle stellten die Polizeibeamten einen Blutalkoholwert von 1,83 Promille fest.

Das Amtsgericht verurteilte ihn daraufhin wegen Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe. Daneben verhängte es als weitere Strafe ein Fahrverbot, sah aber von einer Entziehung der Fahrerlaubnis ab. Zwar gelte nach § 69 des Strafgesetzbuches (StGB), dass ein Täter, der wegen Trunkenheit im Verkehr verurteilt wird, in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen sei. Jedoch habe der Angeklagte „nur“ einen E-Scooter verwendet und mit diesem lediglich eine kurze Strecke zurückgelegt, argumentierte das Amtsgericht.

Die Staatsanwaltschaft Göttingen hat gegen dieses Urteil – beschränkt auf den Rechtsfolgenausspruch – Sprungrevision eingelegt. Das Amtsgericht stelle bei seiner Entscheidung, von der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen, rechtsfehlerhaft darauf ab, dass der Angeklagte nicht mit einem PKW, sondern einem E-Scooter gefahren sei. Dies widerspreche der gesetzgeberischen Wertung, wonach der E-Scooter als Kraftfahrzeug einzustufen und die Fahrerlaubnis beim Führen von Kraftfahrzeugen in fahruntüchtigem Zustand regelmäßig zu entziehen sei, so auch die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig in ihrer Antragsschrift.

Dieser Argumentation ist der Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig nun gefolgt und hat die Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückverwiesen.

Der Strafsenat ist ebenso wie bereits das Amtsgericht von einer absoluten Fahruntüchtigkeit des Angeklagten ausgegangen. Dies folge daraus, dass der E-Scooter in seiner Fahreigenschaft und seinem Gefährdungspotential einem Fahrrad mindestens gleichzustellen sei und der Angeklagte den nach der obergerichtlichen Rechtsprechung für Fahrradfahrer geltenden Grenzwert von 1,6 Promille überschritten habe. Ob für E-Scooter auch der für Kraftfahrzeugführer geltende Grenzwert von 1,1 Promille gilt, musste der Senat danach nicht entscheiden.

Aufgrund der Verurteilung wegen einer Trunkenheitsfahrt sei nach § 69 StGB auch davon auszugehen, dass der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Abweichend von der erstinstanzlichen Entscheidung hat der Senat nach dem bisher festgestellten Sachverhalt keine besonderen Umstände ausmachen können, die eine Ausnahme von dieser Regelvermutung rechtfertigten.

Ein E-Scooter sei ein Kraftfahrzeug im Sinne dieser Vorschrift. Damit greife die Regelvermutung zunächst einmal. Ob von dieser ausnahmsweise abzuweichen sei, sei von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Allein die Art des Kraftfahrzeugs könne eine Ausnahme nicht begründen und auch nicht als stets mildernd berücksichtigt werden.

Auch die weiteren von dem Amtsgericht angeführten Gründe tragen nicht die Annahme eines Ausnahmefalls. Insbesondere handele es sich bei einer Fahrtstrecke von einem Kilometer nicht um eine kurze Fahrt.
Diese Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung ist nicht anfechtbar.
(PM v. 15.12.2023)


 

E-Scooter-Fahrt unter Drogen: Fahrerlaubnis kann zurecht entzogen werden

24.07.2023  |  Grenze hinnehmbaren Cannabiskonsums überschritten, wenn auch nur die Möglichkeit einer cannabisbedingten Beeinträchtigung der Fahrsicherheit besteht
(VG Berlin, Beschluss vom 17.07.2023 - VG 11 L 184/23) mehr


Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit heute veröffentlichtem Beschluss vom 17.07.2023 (VG 11 L 184/23) Folgendes in einem sog. Eilverfahren entschieden:

Wer unter Cannabiseinfluss mit einem E-Scooter fährt, muss unter Umständen mit dem Entzug der Fahrerlaubnis rechnen.

Der Antragsteller war im Juli 2022 mit einem E-Scooter im Straßenverkehr unterwegs. Da er Schlangenlinien fuhr und mehrfach nah an geparkte Autos geriet, wurde er von der Polizei angehalten und ihm eine Blutprobe abgenommen. Diese wies einen THC-Wert von 4,4 ng/ml auf. Gegenüber den Polizisten äußerte der Antragsteller, jeden Tag Cannabis zu konsumieren und jeden Tag Auto zu fahren; dies stellte er im Nachhinein als nicht ernst gemeint dar.

Die Fahrerlaubnisbehörde forderte den Antragsteller auf, binnen drei Monaten ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu seiner Fahreignung einzureichen. Der Antragsteller reagierte nicht. Ihm wurde daraufhin mit sofortiger Wirkung die Fahrerlaubnis entzogen.

Das Gericht lehnte den dagegen gerichteten Eilantrag des Antragstellers ab. Die Fahrerlaubnisbehörde müsse demjenigen die Fahrerlaubnis entziehen, der sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweise. Dies sei beim Antragsteller anzunehmen, weil er das zu Recht angeforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht eingereicht habe. Eines solchen Gutachtens bedürfe es, um zu klären, ob der gelegentlich Cannabis konsumierende Antragsteller nur einmalig nicht zwischen dem Cannabiskonsum und dem Führen eines Kraftfahrzeugs getrennt habe oder dies auch in Zukunft nicht tun werde.

Auch beim (erlaubnisfreien) Fahren mit einem Elektrokleinstfahrzeug wie einem E-Scooter sei das Trennungsgebot zu beachten. Die Grenze hinnehmbaren Cannabiskonsums sei überschritten, wenn auch nur die Möglichkeit einer cannabisbedingten Beeinträchtigung der Fahrsicherheit bestehe; dies nehme die Rechtsprechung – jedenfalls beim Fahren eines Autos – bei einem THC-Wert von 1,0 ng/ml an. Vorliegend sei neben dem deutlich überschrittenen THC-Wert erschwerend zu berücksichtigen, dass der Antragsteller bei der Kontrolle im Juli 2022 durch seine Fahrweise den Straßenverkehr gefährdet und einen regelmäßigen Verstoß gegen das Trennungsgebot auch beim Autofahren eingeräumt habe. Die gesetzte Frist von drei Monaten zur Beibringung des Gutachtens sei ausreichend gewesen, weil Zweifel an der Fahreignung nach einem Verstoß gegen das Trennungsgebot rasch zu klären seien. Das öffentliche Interesse, schwere Personen- und Sachschäden zu vermeiden, die mit Verkehrsunfällen aufgrund einer Drogeneinnahme verbunden sein könnten, rechtfertige schließlich den sofortigen Entzug der Fahrerlaubnis.

Gegen den Beschluss kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.
(PM 32/2023 v. 24.07.2023)


 

Bußgeld bei Tempoverstoß: Einsichtsrecht in Radar-Wartungen

16.01.2023  |  Verfassungsgrundsatz des faires Verfahrens erfordert die Möglichkeit, in die Wartungsprotokolle usw. des Radar-Messgeräts einzusehen - sogar, wenn es um 126 Einzelmessdaten geht
(VerfGH BW, Urteil vom 16.01.2023 - 1 VB 38/18) mehr


Der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 16.01.2023 (1 VB 38/18) Folgendes entschieden:

Zwei in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren ergangene Entscheidungen des Amtsgerichts Mannheim und des Oberlandesgerichts Karlsruhe werden aufgehoben, weil diese den Beschwerdeführer in seinem Recht auf faires Verfahren verletzt haben. Dem Beschwerdeführer wurde die Einsicht in Wartungs- und Reparaturunterlagen des Geschwindigkeitsmessgeräts verwehrt, worin - im Anschluss an die nach den angegriffenen Entscheidungen ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens zu sehen ist.

Sachverhalt:

Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, als Kraftfahrzeugführer die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h überschritten zu haben. Ihm wurde deshalb zunächst mit Bußgeldbescheid vom 1. Februar 2017 und anschließend Urteil des Amtsgerichts vom 22. August 2017 eine Geldbuße in Höhe von 160 € sowie ein einmonatiges Fahrverbot auferlegt.

Während des Bußgeldverfahrens begehrte der Beschwerdeführer die Übermittlung der Ermittlungsakte, der Rohmessdaten sowie der Lebensakte und der Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts. Die Bußgeldbehörde stellte dem Beschwerdeführer die Ermittlungsakte sowie einige der gewünschten Rohmessdaten zur Verfügung. Eine Einsicht in die Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts erhielt er nicht.

Das Amtsgericht lehnte den wiederholten Einsichtsantrag (bzgl. Lebensakte und in die Wartungs-/Reparatur-/Eichnachweise des Messgeräts) sowie den Antrag auf Übermittlung der 126 Einzelmessdaten mit der Begründung ab, dass die Beweiserhebung als zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich anzusehen sei. Zudem bestehe kein Anspruch auf Beiziehung der Lebensakte sowie auf Bildung eines größeren Aktenbestandes, zumal eine Lebensakte nach den Angaben der Bußgeldbehörde nicht geführt werde.

Das Oberlandesgericht sah in der amtsgerichtlichen Entscheidung keine Rechtsfehler. Im Hinblick auf die Ablehnung der Beiziehung von Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichnachweisen des Messgeräts habe der Messbeamte als Zeuge angegeben, dass keine eichrelevanten Störungen oder Defekte aufgetreten seien, so dass das Amtsgericht im Rahmen seiner Aufklärungspflicht nicht verpflichtet gewesen sei, beim Verwender des Messgeräts Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe anzufordern, zumal der Messbeamte solche auch verneint habe.

Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs:

Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens aufgrund der unterbliebenen Einsichtsgewährung in die Wartungs- und Reparaturunterlagen rügt, zulässig und begründet.
Das Urteil des Amtsgerichts Mannheim sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf faires Verfahren, indem darin jeweils unter Annahme eines Gleichlaufs der gerichtlichen Aufklärungspflicht mit dem Einsichtsrecht des Betroffenen dessen Zugang zu den Wartungs-/Reparaturunterlagen des Messgeräts abgelehnt wurde.

Wie das Bundesverfassungsgericht - nach Erlass der angegriffenen Entscheidungen - festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen. Hierbei handelt es sich nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen. Im Rechtsstaat muss dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dabei wendet sich das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben. Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert daher „Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einer its und dem Beschuldigten andererseits.

Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Diese, sowie die nachfolgenden Grundsätze, gelten gleichermaßen für das Strafverfahren wie für das Ordnungswidrigkeitenverfahren. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt demnach, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens bzw. Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, e zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind.

Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Betroffene kann so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen.

Diese Grundsätze haben das Amts- und Oberlandesgericht verkannt, indem sie die Einsichtsgesuche betreffend die Wartungs- und Reparaturunterlagen als Beweisanträge bewertet und diese im Rahmen der Prüfung einer gerichtlichen Aufklärungspflicht abgelehnt haben.

Der aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgende Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen - aber vorhandenen - Informationen verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen. Die Entscheidungen des Amts- und Oberlandesgerichts waren daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
(PM v. 16.01.2023)


 

06.12.2019

Der Schokoladen-Nikolaus als Befangenheitsgrund - Ablehnung eines Schöffen im Strafverfahren wegen Misstrauens gegen seine Unparteilichkeit
(LG Koblenz, Beschluss vom 19.12.2012 – 2090 Js 29752/10 - 12 KLs –) mehr

Aus aktuellem Anlass ist ein Beschluss des Landgerichts Koblenz vom 19.12.2012 (2090 Js 29752/10 - 12 KLs) in Erinnerung zu rufen:

Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Schöffen ist aus der Sicht eines vernünftigen Prozessbeteiligten gerechtfertigt, wenn ein Schöffe vor Beginn des (hier: 26.) Verhandlungstages Schokoladennikoläuse auf den üblicherweise von den Staatsanwälten benutzten Sitzungstisch legt.

Die Befangenheitsanträge der Angeklagten sind begründet. Mit Anklageschrift vom 25. Mai 2012 erhob die Staatsanwaltschaft Koblenz in dem Verfahren 2090 Js 29.752/10 12 KLs gegen den Angeklagten ... und 25 Mitangeklagte Anklage zur 12. großen Strafkammer/Staatsschutzkammer des Landgerichts Koblenz. Den Angeklagten werden im Wesentlichen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung bzw. deren Unterstützung und weitere insb. im Rahmen der kriminellen Vereinigung begangene Straftaten zur Last gelegt.Die Hauptverhandlung gegen die Angeklagten begann am 20.08.2012 und wurde zuletzt am 11.12.12 mit dem 27. Verhandlungstag fortgesetzt.

In diesem Termin lehnten die Angeklagten den Schöffen ... wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Die Anträge werden damit begründet, dass der abgelehnte Schöffe vor Beginn des 26. Verhandlungstages am 06.12.2012 den Sitzungssaal durch das Beratungszimmer betrat, auf den regelmäßig von den Vertretern der Staatsanwaltschaft benutzten Sitzungstisch zwei "Schokoladennikoläuse" legte und sodann den Sitzungssaal wieder verließ. Zu dieser Zeit war noch kein Vertreter der Staatsanwaltschaft anwesend.

Das in zulässiger Weise angebrachte Befangenheitsgesuch ist begründet. Die von den ablehnenden Angeklagten zur Begründung angeführten Tatsachen rechtfertigen die Annahme der Besorgnis der Befangenheit des Schöffen (§§ 24, 31 StPO).

Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters und damit die Besorgnis der Befangenheit ist nur gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhaltes Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Diese Grundsätze gelten in gleicher Weise für die Schöffen. Dabei ist entscheidend auf den nach außen deutlich gewordenen Eindruck von der inneren Haltung des Richters abzustellen, ohne dass dieser Eindruck tatsächlich der inneren Haltung des Richters entsprechen müsste. Hierbei kommt es auch, aber nicht nur auf die Sicht des Ablehnenden an. Denn es genügt nicht allein das Misstrauen als rein subjektives Empfinden; dieses muss vielmehr gerechtfertigt, also in objektivierbaren Umständen begründet sein (individuell-objektiver Maßstab).

An diesen Grundsätzen gemessen stellt das Verhalten des abgelehnten Schöffen vor Beginn des 26. Verhandlungstages bei einer Gesamtschau einen Grund dar, der aus Sicht der ablehnenden Angeklagten bei verständiger Würdigung geeignet ist, Misstrauen gegen dessen Unparteilichkeit zu rechtfertigen (§ 24 Abs. 2 StPO).

 

08.08.2019

„Polizeiflucht“ kann dem neuen Straftatbestand „Verbotene Kraftfahrzeugrennen“ unterfallen - Absicht subjektiv höchstmöglicher Geschwindigkeit ist ausreichend und muss nicht Hauptmotiv sein
(OLG Stuttgart, Beschluss vom 04.07.2019 - 4 Rv 28 Ss 103/19) mehr

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat mit am 08.08.2019 veröffentlichtem Beschluss vom 04.07.2019 (4 Rv 28 Ss 103/19) folgendes entschieden:

Auch Fälle der sogenannten „Polizeiflucht“ können dem seit 13.10.2017 geltenden, neuen Straftatbestand „Verbotene Kraftfahrzeugrennen“ unterfallen.

Der Angeklagte war vom Amtsgericht Münsingen am 02.10.2018 wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens zu der Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 40 € verurteilt worden. Ihm wurde die Fahrerlaubnis entzogen und sein Führerschein wurde eingezogen. Zudem wurde eine Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von neun Monaten festgesetzt. Hiergegen hat der Angeklagte eine sogenannte „Sprungrevision“ zum Oberlandesgericht eingelegt, die jedoch ohne Erfolg blieb.

Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Amtsgerichts hatte der Strafsenat des OLG von folgendem Sachverhalt auszugehen:

Der Angeklagte flüchtete am 01.05.2018 gegen vier Uhr in Lichtenstein-Honau mit seinem PKW vor einer Streifenwagenbesatzung der Polizei, welche ihn einer Verkehrskontrolle unterziehen wollte und ihm deshalb Haltesignal anzeigte. Nach Erkennen des Streifenwagens und des Haltesignals beschleunigte er sein Fahrzeug, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen und dadurch die ihn nun mit Blaulicht, Martinshorn und dem Haltesignal „Stopp Polizei“ verfolgenden Polizeibeamten abzuhängen. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschreitend und unter Missachtung der Sicherheitsinteressen anderer Verkehrsteilnehmer fuhr er mit weit überhöhter Geschwindigkeit durch den Ort Engstingen. Die Gegenfahrbahn nutzend fuhr er über eine „Rot“ anzeigende Ampel und setzte seine Fahrt durch Engstingen bei erlaubten 50 km/h mit mindestens 145 km/h fort, wobei er von einer Geschwindigkeitsmessanlage „geblitzt“ wurde. Nach dem Ortsausgang fuhr er auf der teils kurvenreichen und unübersichtlichen Bundesstraße 313 – bei partieller Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h – mit einer Geschwindigkeit von mindestens 160 bis 180 km/h. Hierbei schnitt er an unübersichtlichen Stellen die Kurven; ihm waren allein um des schnelleren Fortkommens willen die Belange anderer Verkehrsteilnehmer gleichgültig. Die ihn verfolgenden Polizeibeamten konnten die Distanz zum Fahrzeug des Angeklagten nicht verringern, weil dies ohne erhebliches Risiko für sie und andere Verkehrsteilnehmer nicht möglich war, und mussten daher die Verfolgung abbrechen.

Die erhobene Sachrüge deckte keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Diese Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gemäß § 315d Abs. 1 Nr. 3 des Strafgesetzbuchs (StGB). Insbesondere hat das Amtsgericht fehlerfrei festgestellt, dass der Angeklagte in der Absicht handelte, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Dies verlangt - so der Senat - nicht die Absicht, das Fahrzeug mit objektiv höchstmöglicher Geschwindigkeit zu führen oder es bis an die technischen bzw. physikalischen Grenzen auszufahren. Ausreichend ist vielmehr das Abzielen auf eine relative, eine nach den Sicht-, Straßen-und Verkehrsverhältnissen oder den persönlichen Fähigkeiten des Fahrers mögliche Höchstgeschwindigkeit. Auf diese Absicht hat das Amtsgericht aus der Gesamtschau der Umstände rechtsfehlerfrei geschlossen. Die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, muss auch nicht Haupt- oder Alleinbeweggrund für die Fahrt sein. Vielmehr kann auch in Fällen der „Polizeiflucht“ eine Strafbarkeit nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB vorliegen, wenn die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen im Einzelfall - wie hier - festgestellt werden können. Sowohl der Gesetzeswortlaut als auch die Begründung sprechen dafür, auch die „Polizeiflucht“ als tatbestandsmäßig anzusehen. Schließlich ist sie von einem spezifischen Renncharakter geprägt, in dem sich gerade die in der Gesetzesbegründung genannten besonderen Risiken wiederfinden, auch wenn das Ziel des Wettbewerbs hier nicht im bloßen Sieg, sondern in der gelungenen Flucht liegt. Die risikobezogene Vergleichbarkeit mit den sportlichen Wettbewerben liegt auf der Hand. Es wäre vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Vorschrift und der intendierten Abgrenzung zwischen Fahrten mit Renncharakter - und damit abstrakt höherem Gefährdungspotential - und bloßen Geschwindigkeitsüberschreitungen auch sinnwidrig, für eine Strafbarkeit - bei identischer Fahrweise und gleicher abstrakter Gefährdungslage - allein danach zu differenzieren, welche Motive die Absicht, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen, letztlich ausgelöst haben oder begleiten.

 
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