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Arbeitsrecht individual


Nicht nur "Ehrenamt": Bei Arbeit im Verein kann Anspruch auf Vergütung bestehen

25.04.2023  |  Grundgesetz schützt Vereinsautonomie nicht unbeschränkt - bei weisungsgebundener Arbeit hat Mitglied Rechte wie ein Arbeitnehmer - z.B. Anspruch auf Mindestlohn
(BAG, Urteil v. 25.04.2023 - 9 AZR 253/22) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 25.04.2023 (9 AZR 253/22) Folgendes entschieden:

Das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kann nur von einem Verein in Anspruch genommen werden, der ein hinreichendes Maß an religiöser Systembildung und Weltdeutung aufweist. Andernfalls ist es ihm verwehrt, mit seinen Mitgliedern zu vereinbaren, außerhalb eines Arbeitsverhältnisses fremdbestimmte, weisungsgebundene Arbeit in persönlicher Abhängigkeit zu leisten, sofern diese nicht ähnlich einem Arbeitnehmer sozial geschützt sind.

Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, dessen satzungsmäßiger Zweck „die Volksbildung durch die Verbreitung des Wissens, der Lehre, der Übungen und der Techniken des Yoga und verwandter Disziplinen sowie die Förderung der Religion“ ist. Zur Verwirklichung seiner Zwecke betreibt er Einrichtungen, in denen Kurse, Workshops, Seminare, Veranstaltungen und Vorträge zu Yoga und verwandten Disziplinen durchgeführt werden. Dort bestehen sog. Sevaka-Gemeinschaften. Sevakas sind Vereinsangehörige, die in der indischen Ashram- und Klostertradition zusammenleben und ihr Leben ganz der Übung und Verbreitung der Yoga Vidya Lehre widmen. Sie sind aufgrund ihrer Vereinsmitgliedschaft verpflichtet, nach Weisung ihrer Vorgesetzten Sevazeit zu leisten. Gegenstand der Sevadienste sind zB Tätigkeiten in Küche, Haushalt, Garten, Gebäudeunterhaltung, Werbung, Buchhaltung, Boutique etc. sowie die Durchführung von Yogaunterricht und die Leitung von Seminaren.

Als Leistung zur Daseinsfürsorge stellt der Beklagte den Sevakas Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung und zahlt ein monatliches Taschengeld iHv. bis zu 390,00 Euro, bei Führungsverantwortung bis zu 180,00 Euro zusätzlich. Sevakas sind gesetzlich kranken-, arbeitslosen-, renten- und pflegeversichert und erhalten eine zusätzliche Altersversorgung.

Die Klägerin ist Volljuristin. Sie lebte vom 1. März 2012 bis zur Beendigung ihrer Mitgliedschaft beim Beklagten am 30. Juni 2020 als Sevaka in dessen Yoga-Ashram und leistete dort im Rahmen ihrer Sevazeit verschiedene Arbeiten. Die Klägerin hat geltend gemacht, zwischen den Parteien habe ein Arbeitsverhältnis bestanden, und verlangt ab dem 1. Januar 2017 auf der Grundlage der vertraglichen Regelarbeitszeit von 42 Wochenstunden gesetzlichen Mindestlohn iHv. 46.118,54 Euro brutto.

Der Beklagte hat eingewendet, die Klägerin habe gemeinnützige Sevadienste als Mitglied einer hinduistischen Ashramgemeinschaft und nicht in einem Arbeitsverhältnis geleistet. Die Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG und das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG iVm. Art. 137 WRV ermöglichten es, eine geistliche Lebensgemeinschaft zu schaffen, in der die Mitglieder außerhalb eines Arbeitsverhältnisses gemeinnützigen Dienst an der Gesellschaft leisteten.

Das Arbeitsgericht hat – soweit für die Revision von Bedeutung – der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage auf die Berufung des Beklagten abgewiesen.

Die Revision der Klägerin hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Die Klägerin war Arbeitnehmerin des Beklagten und hat für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 1 iVm. § 22 Abs. 1 Satz 1 MiLoG. Sie war vertraglich zu Sevadiensten und damit iSv. § 611a Abs. 1 BGB zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Der Arbeitnehmereigenschaft stehen weder die besonderen Gestaltungsrechte von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften noch die Vereinsautonomie des Art. 9 Abs. 1 GG entgegen.
Der Beklagte ist weder Religions- noch Weltanschauungsgemeinschaft. Es fehlt das erforderliche Mindestmaß an Systembildung und Weltdeutung. Der Beklagte bezieht sich in seiner Satzung ua. auf Weisheitslehren, Philosophien und Praktiken aus Indien und anderen östlichen und westlichen Kulturen sowie auf spirituelle Praktiken aus Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Taoismus und anderen Weltreligionen. Aufgrund dieses weit gefassten Spektrums ist ein systemisches Gesamtgefüge religiöser bzw. weltanschaulicher Elemente und deren innerer Zusammenhang mit der Yoga Vidya Lehre nicht hinreichend erkennbar.

Auch die grundgesetzlich geschützte Vereinsautonomie (Art. 9 Abs. 1 GG) erlaubt die Erbringung fremdbestimmter, weisungsgebundener Arbeitsleistung in persönlicher Abhängigkeit außerhalb eines Arbeitsverhältnisses allenfalls dann, wenn zwingende arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen nicht umgangen werden. Zu diesen zählt ua. eine Vergütungszusage, die den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn garantiert, auf den Kost und Logis nicht anzurechnen sind. Denn dieser bezweckt die Existenzsicherung durch Arbeitseinkommen als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG).

Der Neunte Senat konnte auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend über die Höhe des Mindestlohnanspruchs der Klägerin entscheiden und hat den Rechtsstreit deshalb an das Landearbeitsgericht zurückverwiesen.
(PM 20/23 v. 25.04.2023)


 

Ruhezeiten für Beschäftigte: täglich und wöchentlich gesondert zu gewähren

02.03.2023  |  Beschäftigte müssen sowohl täglich als auch - nicht zeitlich anrechenbar - in der Woche angemessen ausruhen können; tägliche und wöchentliche Ruhezeiten verfolgen unterschiedliche Zwecke
(EuGH, Urteil vom 02.03.2023 - C-477/21) mehr


Der EuGH hat mit Urteil vom 02.03.2023 (C-477/21) Folgendes entschieden:

Die tägliche Ruhezeit kommt zur wöchentlichen Ruhezeit hinzu, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht. Dies ist auch dann der Fall, wenn die nationalen Rechtsvorschriften den Arbeitnehmern eine wöchentliche Ruhezeit gewähren, die länger ist als unionsrechtlich vorgegeben.

Ein Lokführer, der bei der ungarischen Eisenbahngesellschaft MÁV-START beschäftigt ist, klagt vor dem Gerichtshof
Miskolc gegen die Entscheidung seiner Arbeitgeberin, ihm keine tägliche Ruhezeit von mindestens elf zusammenhängenden Stunden (auf die der Arbeitnehmer gemäß der Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung pro 24-Stunden-Zeitraum Anspruch hat) zu gewähren, wenn diese Ruhezeit einer wöchentlichen Ruhezeit oder einer Urlaubszeit vorausgeht oder dieser nachfolgt.

MÁV-START macht geltend, dass ihr Arbeitnehmer durch ihre Entscheidung in keiner Weise benachteiligt werde, da der im vorliegenden Fall anwendbare Tarifvertrag eine wöchentliche Mindestruhezeit gewähre, die mit mindestens 42 Stunden deutlich über der von der Richtlinie vorgegebenen (24 Stunden) liege.

Der Gerichtshof Miskolc möchte vom Gerichtshof unter anderem wissen, ob nach der Richtlinie eine mit einer
wöchentlichen Ruhezeit zusammenhängend gewährte tägliche Ruhezeit Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die tägliche Ruhezeit und die wöchentliche Ruhezeit zwei
autonome Rechte sind, mit denen unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Die tägliche Ruhezeit ermöglicht es dem
Arbeitnehmer, sich für eine bestimmte Anzahl von Stunden, die nicht nur zusammenhängen, sondern sich auch
unmittelbar an eine Arbeitsperiode anschließen müssen, aus seiner Arbeitsumgebung zurückziehen. Die
wöchentliche Ruhezeit ermöglicht es dem Arbeitnehmer, sich pro Siebentageszeitraum auszuruhen. Folglich ist
den Arbeitnehmern die tatsächliche Inanspruchnahme beider Rechte zu gewährleisten.

Wäre die tägliche Ruhezeit hingegen Teil der wöchentlichen Ruhezeit, würde der Anspruch auf die tägliche Ruhezeit
dadurch ausgehöhlt, dass dem Arbeitnehmer die tatsächliche Inanspruchnahme dieser Ruhezeit vorenthalten
würde, wenn er sein Recht auf wöchentliche Ruhezeit in Anspruch nimmt. Die Richtlinie beschränkt sich nicht
darauf, allgemein eine Mindestdauer für das Recht auf eine wöchentliche Mindestruhezeit festzulegen, sondern
stellt ausdrücklich klar, dass zu diesem Zeitraum der Zeitraum hinzukommt, der mit dem Recht auf tägliche Ruhezeit
verknüpft ist. Daraus folgt, dass die tägliche Ruhezeit nicht Teil der wöchentlichen Ruhezeit ist, sondern zu
dieser hinzukommt, auch wenn sie dieser unmittelbar vorausgeht.

Der Gerichtshof stellt auch fest, dass die im Vergleich zur Richtlinie günstigeren Bestimmungen des ungarischen
Rechts über die Mindestdauer der wöchentlichen Ruhezeit dem Arbeitnehmer nicht andere Rechte nehmen können,
die ihm diese Richtlinie gewährt, insbesondere nicht das Recht auf tägliche Ruhezeit. Daher muss die tägliche
Ruhezeit unabhängig von der Dauer der in der anwendbaren nationalen Regelung vorgesehenen
wöchentlichen Ruhezeit gewährt werden.
(PM 39/23 v. 02.03.2023)


 

BAG zu Minijobbern: Anspruch auf gleiche Vergütung

18.01.2023  |  Auch Teilzeitbeschäftigte müssen - bei gleicher Qualifikation - den gleichen Stundenlohn erhalten wie vollzeitbeschäftigte Kollegen
(BAG, Urteil vom 18.01.2023 - 5 AZR 108/22) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 18.01.2023 (5 AZR 108/22) Folgendes entschieden:

Geringfügig Beschäftigte, die in Bezug auf Umfang und Lage der Arbeitszeit keinen Weisungen des Arbeitgebers unterliegen, jedoch Wünsche anmelden können, denen dieser allerdings nicht nachkommen muss, dürfen bei gleicher Qualifikation für die identische Tätigkeit keine geringere Stundenvergütung erhalten als vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, die durch den Arbeitgeber verbindlich zur Arbeit eingeteilt werden.

Der Kläger ist als Rettungsassistent im Rahmen eines geringfügigen Beschäftigungsverhältnisses bei der Beklagten tätig. Diese führt im Auftrag eines Rettungszweckverbandes ua. Notfallrettung und Krankentransporte durch. Sie beschäftigt – nach ihrer Diktion – sog. „hauptamtliche“ Rettungsassistenten in Voll- und Teilzeit, denen sie im Streitzeitraum eine Stundenvergütung von 17,00 Euro brutto zahlte. Daneben sind sog. „nebenamtliche“ Rettungsassistenten für sie tätig, die eine Stundenvergütung von 12,00 Euro brutto erhalten. Hierzu gehört der Kläger.

Die Beklagte teilt die nebenamtlichen Rettungsassistenten nicht einseitig zu Diensten ein, diese können vielmehr Wunschtermine für Einsätze benennen, denen die Beklagte versucht zu entsprechen. Ein Anspruch hierauf besteht allerdings nicht. Zudem teilt die Beklagte den nebenamtlichen Rettungsassistenten noch zu besetzende freie Dienstschichten mit und bittet mit kurzfristigen Anfragen bei Ausfall von hauptamtlichen Rettungsassistenten um Übernahme eines Dienstes. Im Arbeitsvertrag des Klägers ist eine durchschnittliche Arbeitszeit von 16 Stunden pro Monat vorgesehen. Darüber hinaus ist bestimmt, dass er weitere Stunden leisten kann und verpflichtet ist, sich aktiv um Schichten zu kümmern.

Mit seiner Klage hat der Kläger zusätzliche Vergütung in Höhe von 3.285,88 Euro brutto für die Zeit von Januar 2020 bis April 2021 verlangt. Er hat geltend gemacht, die unterschiedliche Stundenvergütung im Vergleich zu den hauptamtlichen Mitarbeitern stelle eine Benachteiligung wegen seiner Teilzeittätigkeit dar. Die Beklagte hält die Vergütungsdifferenz für sachlich gerechtfertigt, weil sie mit den hauptamtlichen Rettungsassistenten größere Planungssicherheit und weniger Planungsaufwand habe. Diese erhielten zudem eine höhere Stundenvergütung, weil sie sich auf Weisung zu bestimmten Diensten einfinden müssten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Beklagte zur Zahlung der geforderten Vergütung verurteilt.

Die hiergegen gerichtete Revision der Beklagten blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat richtig erkannt, dass die im Vergleich zu den hauptamtlichen Rettungsassistenten geringere Stundenvergütung den Kläger entgegen § 4 Abs. 1 TzBfG ohne sachlichen Grund benachteiligt. Die haupt- und nebenamtlichen Rettungsassistenten sind gleich qualifiziert und üben die gleiche Tätigkeit aus.

Der von der Beklagten pauschal behauptete erhöhte Planungsaufwand bei der Einsatzplanung der nebenamtlichen Rettungsassistenten bildet keinen sachlichen Grund zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung. Es ist bereits nicht erkennbar, dass dieser Aufwand unter Berücksichtigung der erforderlichen „24/7-Dienstplanung“ und der öffentlich-rechtlichen Vorgaben zur Besetzung der Rettungs- und Krankenwagen signifikant höher ist.

Auch wenn man unterstellt, dass die Beklagte durch den Einsatz der hauptamtlichen Rettungsassistenten mehr Planungssicherheit hat, weil sie diesen einseitig Schichten zuweisen kann, ist sie hierbei jedoch nicht frei. Sie unterliegt vielmehr ua. durch das Arbeitszeitgesetz vorgegebenen Grenzen in Bezug auf die Dauer der Arbeitszeit und die Einhaltung der Ruhepausen. Die nebenamtlichen Rettungsassistenten bilden insoweit ihre Einsatzreserve. Unerheblich ist, dass diese frei in der Gestaltung der Arbeitszeit sind.

Die Beklagte lässt insoweit unberücksichtigt, dass diese Personengruppe weder nach Lage noch nach zeitlichem Umfang Anspruch auf Zuweisung der gewünschten Dienste hat. Dass sich ein Arbeitnehmer auf Weisung des Arbeitgebers zu bestimmten Dienstzeiten einfinden muss, rechtfertigt in der gebotenen Gesamtschau keine höhere Stundenvergütung gegenüber einem Arbeitnehmer, der frei ist, Dienste anzunehmen oder abzulehnen.
(PM 3/23 v. 18.01.2023)


 

Urlaub: Verstoß gegen Hinweispflichten kann für Arbeitgeber sehr teuer werden

20.12.2022  |  Grundsätzlich verfällt der Urlaubsanspruch spätestens in 3 Jahren - aber erst, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen Urlaubsanspruch aufgeklärt hatte
(BAG, Urteil vom 20.12.2022 - 9 AZR 266/20) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 20.12.2022 (9 AZR 266/20) Folgendes entschieden:

Der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub unterliegt der gesetzlichen Verjährung. Allerdings beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.

Der Beklagte beschäftigte die Klägerin vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin. Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zahlte der Beklagte an die Klägerin zur Abgeltung von 14 Urlaubstagen 3.201,38 Euro brutto. Der weitergehenden Forderung der Klägerin, Urlaub im Umfang von 101 Arbeitstagen aus den Vorjahren abzugelten, kam der Beklagte nicht nach.

Während das Arbeitsgericht die am 6. Februar 2018 eingereichte Klage – soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung – abgewiesen hat, sprach das Landesarbeitsgericht der Klägerin 17.376,64 Euro brutto zur Abgeltung weiterer 76 Arbeitstage zu. Dabei erachtete das Landesarbeitsgericht den Einwand des Beklagten, die geltend gemachten Urlaubsansprüche seien verjährt, für nicht durchgreifend.

Die Revision des Beklagten hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Zwar finden die Vorschriften über die Verjährung (§ 214 Abs. 1, § 194 Abs. 1 BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub Anwendung. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginnt bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB jedoch nicht zwangsläufig mit Ende des Urlaubsjahres, sondern erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.

Der Senat hat damit die Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgrund der Vorabentscheidung vom 22. September 2022 (C-120/21) umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs tritt der Zweck der Verjährungsvorschriften, die Gewährleistung von Rechtssicherheit, in der vorliegenden Fallkonstellation hinter dem Ziel von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zurück, die Gesundheit des Arbeitnehmers durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme zu schützen. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis berufe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben. Der Arbeitgeber könne die Rechtssicherheit gewährleisten, indem er seine Obliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachhole.

Der Beklagte hat die Klägerin nicht durch Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt, ihren Urlaubsanspruch wahrzunehmen. Die Ansprüche verfielen deshalb weder am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG) noch konnte der Beklagte mit Erfolg einwenden, der nicht gewährte Urlaub sei bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses nach Ablauf von drei Jahren verjährt. Den Anspruch auf Abgeltung des Urlaubs hat die Klägerin innerhalb der Verjährungsfrist von drei Jahren erhoben.
(PM 48/22 v. 20.12.2022)


 

Versetzung ins Ausland: Grundsätzlich vom Direktionsrecht des Arbeitgebers gedeckt

30.11.2022  |  Ist keine Beschränkung auf das Inland vereinbart, sondern eine unternehmensweite Versetzbarkeit, muss Entscheidung des Arbeitgebers aber "billigem Ermessen" entsprechen - aber der Wunsch, am Wohnort zu bleiben, schützt Arbeitnehmer nicht
(BAG, Urteil vom 30.11.2022 - 5 AZR 336/21) mehr

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 30.11.2022 (5 AZR 336/21) Folgendes entschieden:

Der Arbeitgeber kann aufgrund seines arbeitsvertraglichen Direktionsrechts den Arbeitnehmer anweisen, an einem Arbeitsort des Unternehmens im Ausland zu arbeiten, wenn nicht im Arbeitsvertrag ausdrücklich oder den Umständen nach konkludent etwas anderes vereinbart worden ist. § 106 GewO begrenzt das Weisungsrecht des Arbeitgebers insoweit nicht auf das Territorium der Bundesrepublik Deutschland. Die Ausübung des Weisungsrechts im Einzelfall unterliegt nach dieser Bestimmung allerdings einer Billigkeitskontrolle.

Der Kläger ist seit Januar 2018 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin – beides international tätige Luftverkehrsunternehmen mit Sitz im europäischen Ausland – als Pilot beschäftigt. Arbeitsvertraglich war die Geltung irischen Rechts und ein Jahresgehalt von 75.325,00 Euro brutto vereinbart. Aufgrund eines von der Beklagten mit der Gewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC), deren Mitglied der Kläger ist, geschlossenen Vergütungstarifvertrags verdiente er zuletzt 11.726,22 Euro brutto monatlich. Stationierungsort des Klägers war der Flughafen Nürnberg. Der Arbeitsvertrag sieht vor, dass der Kläger auch an anderen Orten stationiert werden könne.

Aufgrund der Entscheidung, die Homebase am Flughafen Nürnberg Ende März 2020 aufzugeben, versetzte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 20. Januar 2020 zum 30. April 2020 an ihre Homebase am Flughafen Bologna. Vorsorglich sprach sie eine entsprechende Änderungskündigung aus, die der Kläger unter dem Vorbehalt ihrer sozialen Rechtfertigung annahm.

Der Kläger hält seine Versetzung nach Bologna für unwirksam und hat im Wesentlichen gemeint, das Weisungsrecht des Arbeitgebers nach § 106 Satz 1 GewO erfasse nicht eine Versetzung ins Ausland. Zumindest sei eine solche unbillig, weil ihm sein tariflicher Vergütungsanpruch entzogen werde und ihm auch ansonsten erhebliche Nachteile entstünden. Dagegen hat die Beklagte gemeint, § 106 Satz 1 GewO lasse auch eine Versetzung ins Ausland zu, zumal als Alternative nur eine betriebsbedingte Beendigungskündigung in Betracht gekommen wäre. Ihre Entscheidung wahre billiges Ermessen, es seien alle an der Homebase Nürnberg stationierten Piloten ins Ausland versetzt worden, ein freier Arbeitsplatz an einem inländischen Stationierungsort sei nicht vorhanden gewesen. Zudem habe sie das mit der Gewerkschaft VC in einem „Tarifsozialplan bzgl. Stilllegung/Einschränkung von Stationierungsorten“ vorgesehene Verfahren eingehalten.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat unter Bejahung der Anwendbarkeit deutschen Rechts nach Art. 8 Rom I-Verordnung die Berufung des Klägers zurückgewiesen und angenommen, die Versetzung des Klägers an die Homebase der Beklagten am Flughafen Bologna sei nach § 106 Satz 1 GewO wirksam.

Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers blieb vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts ohne Erfolg.

Soweit das Landesarbeitsgericht die Anwendbarkeit deutschen Rechts nach Art. 8 Rom I-Verordnung bejaht hat, sind hiergegen in der Revision von den Parteien keine Verfahrensrügen erhoben worden und revisible Rechtsfehler nicht ersichtlich.

Ist – wie im Streitfall – arbeitsvertraglich ein bestimmter inländischer Arbeitsort nicht fest vereinbart, sondern ausdrücklich eine unternehmensweite Versetzungsmöglichkeit vorgesehen, umfasst das Weisungsrecht des Arbeitgebers nach § 106 Satz 1 GewO auch die Versetzung an einen ausländischen Arbeitsort. Eine Begrenzung des Weisungsrechts auf Arbeitsorte in der Bundesrepublik Deutschland ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.

Rechtsfehlerfrei hat das Landesarbeitsgericht auch angenommen, dass die Maßnahme billigem Ermessen entsprach und der Ausübungskontrolle standhält. Die Versetzung ist Folge der unternehmerischen Entscheidung, die Homebase am Flughafen Nürnberg aufzugeben. Damit ist die Möglichkeit, den Kläger dort zu stationieren, entfallen. Die Beklagte hat das für einen solchen Fall in dem mit der Gewerkschaft VC geschlossenen Tarifsozialplan vereinbarte Verfahren eingehalten. Offene Stellen an einem anderen inländischen Stationierungsort gab es nicht, ein Einsatz als „Mobile Pilot“ war nicht möglich, eine Base-Präferenz hatte der Kläger nicht angegeben, alle am Flughafen Nürnberg stationierten Piloten wurden an einen Standort in Italien versetzt.

Die Weisung der Beklagten lässt den Inhalt des Arbeitsvertrags, insbesondere das arbeitsvertragliche Entgelt, unberührt. Dass der Kläger den Anspruch auf das höhere tarifliche Entgelt verliert, liegt an dem von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Geltungsbereich des Vergütungstarifvertrags, der auf die in Deutschland stationierten Piloten beschränkt ist. Zudem sieht der Tarifsozialplan vor, dass Piloten, die an einen ausländischen Stationierungsort verlegt werden, zu den dort geltenden Arbeitsbedingungen, insbesondere den dortigen Tarifgehältern, weiterbeschäftigt werden.

Es ist auch nicht unbillig iSd. § 106 Satz 1 GewO, wenn die Beklagte mit der Versetzung verbundene sonstige Nachteile des Klägers, der seinen Wohnort Nürnberg nicht aufgeben will, finanziell nicht stärker ausgleicht, als es im Tarifsozialplan vorgesehen ist. Weil die Versetzung des Klägers bereits aufgrund des Weisungsrechts der Beklagten wirksam war, kam es auf die von ihr vorsorglich ausgesprochene Änderungskündigung nicht mehr an.
(PM Nr. 45/22 v. 30.11.2022)

 

Nachvertragliches Wettbewerbsverbot: Karenzentschädigung nur bezüglich direkter Vergütung

25.08.2022  |  Karenzentschädigung bei Wettbewerbsverbot umfasst nur Engelt, das der Arbeitgeber als Vergütung für  die geleistete Arbeit schuldet - Aktienoptionen der Konzernmutter gehören nicht dazu
(BAG, Urteil vom 25.08.2022 - 8 AZR 453/21) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 25.08.2022 (8 AZR 453/21) Folgendes entschieden:

Der Begriff der „vertragsmäßigen Leistungen“ iSv. § 74 Abs. 2 HGB, auf deren Grundlage sich bei einem zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbarten nachvertraglichen Wettbewerbsverbot die gesetzliche (Mindest-)Karenzentschädigung berechnet, umfasst nur solche Leistungen, die auf dem Austauschcharakter des Arbeitsvertrags beruhen und die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer als Vergütung für geleistete Arbeit schuldet. Deshalb sind, soweit der Arbeitnehmer eine Vereinbarung über die Gewährung von Restricted Stock Units (RSUs – beschränkte Aktienerwerbsrechte) nicht mit seinem Arbeitgeber, sondern mit der Obergesellschaft der Unternehmensgruppe schließt, der sein Vertragsarbeitgeber angehört, die dem Arbeitnehmer seitens der Obergesellschaft gewährten RSUs bzw. die ihm – nach Wegfall bestimmter Restriktionen – zugeteilten Aktien grundsätzlich nicht Teil der „vertragsmäßigen Leistungen“ iSv. § 74 Abs. 2 HGB.

Etwas anderes kann jedoch gelten, wenn der Vertragsarbeitgeber im Hinblick auf die Gewährung der RSUs durch die Obergesellschaft ausdrücklich oder konkludent eine eigene (Mit-)Verpflichtung eingegangen ist. Ob dies zutrifft, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls.

Der Kläger war von Januar 2012 bis Januar 2020 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen beschäftigt. Sein monatliches Grundgehalt belief sich zuletzt auf 10.666,67 Euro brutto. Die Beklagte ist Mitglied einer Unternehmensgruppe, deren Obergesellschaft ein US-amerikanisches Unternehmen ist. Der im Dezember 2011 geschlossene Arbeitsvertrag des Klägers enthält unter § 15 die Vereinbarung eines neunmonatigen konzernweiten nachvertraglichen Wettbewerbsverbots. Im Gegenzug verpflichtete sich die Arbeitgeberin, an den Kläger „nach Ende der Anstellung eine Entschädigung zu zahlen, welche für jedes Jahr des Verbots die Hälfte der vom Angestellten zuletzt bezogenen vertragsmäßigen Leistungen erreicht“. Ergänzend wurde die Geltung der §§ 74 ff. HGB vereinbart. Während seines Arbeitsverhältnisses partizipierte der Kläger an dem „RSU-Programm“ der Obergesellschaft und erhielt auf der Grundlage der von ihm mit dieser jeweils separat getroffenen „Global Restricted Stock Unit Award Agreements“ jährlich eine bestimmt Anzahl von RSUs.

Mit seiner Klage hat der Kläger, der sich nach seinem Ausscheiden an das Wettbewerbsverbot gehalten hat, die Beklagte zuletzt noch auf Zahlung von Karenzentschädigung iHv. insgesamt 80.053,65 Euro brutto nebst Zinsen in Anspruch genommen. Er hat die Auffassung vertreten, ihm stehe für die Karenzzeit – über den von der Beklagten bereits gezahlten und den ihm erstinstanzlich rechtskräftig zuerkannten weiteren Betrag hinaus – eine weitere Karenzentschädigung iHv. 8.894,85 Euro brutto monatlich zu. Bei der Berechnung der Karenzentschädigung seien auch die ihm gewährten RSUs zu berücksichtigen. Darauf, wer Schuldner dieser Leistungen sei, könne es schon in Anbetracht der Möglichkeit der Einflussnahme der Obergesellschaft auf die Vertragsbedingungen im Arbeitsverhältnis der Parteien nicht ankommen. Die Vorinstanzen haben die Klage im noch streitgegenständlichen Umfang abgewiesen.

Die Revision des Klägers hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Der Kläger hat – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat – keinen Anspruch auf Zahlung einer höheren Karenzentschädigung. Ein solcher Anspruch hätte sich nur unter Berücksichtigung der dem Kläger seitens der Obergesellschaft gewährten RSUs ergeben können. Bei diesen handelt es sich jedoch nicht um „vertragsmäßige Leistungen“ iS der unter § 15 des Arbeitsvertrags über die Höhe der Karenzentschädigung getroffenen Vereinbarung. Diese Vereinbarung greift den Wortlaut von § 74 Abs. 2 HGB auf und ist mithin dahin zu verstehen, dass die Beklagte dem Kläger eine Karenzentschädigung iH der gesetzlichen Mindestentschädigung zugesagt hat.

Für die Auslegung des Begriffs der „vertragsmäßigen Leistungen“ in § 15 des Arbeitsvertrags gilt demnach nichts anderes als für die Auslegung des entsprechenden Rechtsbegriffs in § 74 Abs. 2 HGB. Der Begriff der „vertragsmäßigen Leistungen“ iSv. § 74 Abs. 2 HGB, auf deren Grundlage sich bei der Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots die gesetzliche (Mindest-)Karenzentschädigung berechnet, umfasst nur solche Leistungen, die auf dem Austauschcharakter des Arbeitsvertrags beruhen und die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer als Vergütung für geleistete Arbeit schuldet.

Da der Kläger die jeweiligen „Global Restricted Stock Unit Award Agreements“, also die Vereinbarungen über die Gewährung der RSUs, nicht mit der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen, sondern mit der Obergesellschaft getroffen hat, setzt die Berücksichtigung der RSUs bei der Berechnung der Karenzentschädigung zumindest voraus, dass die Beklagte im Hinblick auf die Gewährung dieser RSUs – ausdrücklich oder konkludent – eine (Mit-)Verpflichtung übernommen hatte. Die Beklagte ist jedoch – wie das Landesarbeitsgericht unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls rechtsfehlerfrei angenommen hat – weder ausdrücklich noch konkludent eine solche (Mit-)Verpflichtung eingegangen.

Insbesondere war eine andere Bewertung nicht deshalb geboten, weil die Parteien in § 15 des Arbeitsvertrags ein „konzernweites“ Wettbewerbsverbot vereinbart hatten. Selbst wenn die Wettbewerbsabrede hinsichtlich ihres vereinbarten Konzernbezugs nicht dem Schutz berechtigter geschäftlicher Interessen der Beklagten gedient haben sollte, hätte dies nach § 74a Abs. 1 HGB „nur“ eine Rückführung der dem Kläger auferlegten Beschränkungen auf die zulässige Reichweite des Verbots bewirkt, nicht aber dazu geführt, dass der Kläger, soweit er sich auch des Wettbewerbs insbesondere im Geschäftsbereich der Obergesellschaft enthalten hat, eine Karenzentschädigung unter Berücksichtigung der RSUs verlangen könnte.
(PM Nr. 33/22 v. 25.08.2022)


 

Trotz Elternzeit: Kündigung ist wirksam, wenn Integrationsamt zustimmt

05.07.2022  |  Fällt Arbeitsplatz weg und wird Änderungsangebot nicht angenommen, ist Kündigung zulässig, wenn besonderes Kündigungsschutzverfahren eingehalten wird
(LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 05.07.2022 - 16 Sa 1750/21) mehr


Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 05.07.2022 (16 Sa 1750/21) Folgendes entscheiden:

Die Kündigung einer Arbeitnehmerin ist nach Zustimmung durch das Integrationsamt auch während der Elternzeit wirksam.

Die Arbeitnehmerin hat sich gegen eine von ihrer Arbeitgeberin während der Elternzeit aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochene Änderungskündigung gewandt. Das hierfür zuständige Integrationsamt hatte zuvor dieser Kündigung während der Elternzeit zugestimmt.

Bei einer Änderungskündigung handelt es sich um eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses verbunden mit dem gleichzeitigen Angebot der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Arbeitsbedingungen. Durch die hier angebotene Änderung sollte das Arbeitsverhältnis zu den Bedingungen und mit den Aufgaben durchgeführt werden, die die Arbeitnehmerin vor Zuweisung des nach Behauptung der Arbeitgeberin weggefallenen anderweitigen Arbeitsplatzes innehatte. Die Arbeitnehmerin hat das Änderungsangebot der Arbeitgeberin abgelehnt und sich gegen die Kündigung gewandt.

Das Arbeitsgericht Potsdam hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat diese Entscheidung bestätigt. Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, der ursprüngliche Arbeitsplatz der Arbeitnehmerin sei durch eine zulässige unternehmerische Entscheidung weggefallen, weshalb eine Beschäftigung zu den bisherigen Bedingungen nicht mehr möglich gewesen sei. Deshalb habe die Arbeitgeberin nach der Zustimmung des Integrationsamtes der Arbeitnehmerin auch während der Elternzeit kündigen und ihr die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu geänderten Bedingungen anbieten dürfen. Da die Klägerin das Änderungsangebot nicht angenommen hat, wurde das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung beendet.

Die Revision zum Bundesarbeitsgericht hat das Landesarbeitsgericht nicht zugelassen.
(PM Nr. 15/22 v. 06.07.2022)


 

Arbeitsschutz: Arbeitgeber darf einseitig regelmäßige Corona-Tests anordnen

01.06.2022  |  Fürsorgepflicht gegenüber Beschäftigten kann es gebieten, dass Arbeitgeber im Rahmen eines Hygienekonzepts auch wiederholte PCR-Test verlangt - Weigert sich Beschäftigter, entfällt die Vergütung
(BAG, Urteil vom 01.06.2022 - 5 AZR 28/22) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 01.06.2022 (5 AZR 28/22) Folgendes entschieden:

Der Arbeitgeber kann zur Umsetzung der ihn treffenden arbeitsschutzrechtlichen Verpflichtungen berechtigt sein, auf Grundlage eines betrieblichen Schutz- und Hygienekonzepts Corona-Tests einseitig anzuordnen.

1.
Die Klägerin war als Flötistin an der Bayerischen Staatsoper mit einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 8.351,86 Euro beschäftigt. Zu Beginn der Spielzeit 2020/21 hat die Bayerische Staatsoper, nachdem sie zum Schutz der Mitarbeiter vor COVID-19-Erkrankungen bereits bauliche und organisatorische Maßnahmen wie den Umbau des Bühnenbereichs und die Neuregelung von Zu- und Abgängen ergriffen hatte, im Rahmen ihres betrieblichen Hygienekonzepts in Zusammenarbeit u.a. mit dem Institut für Virologie der Technischen Universität München und dem Klinikum rechts der Isar eine Teststrategie entwickelt. Vorgesehen war die Einteilung der Beschäftigten in Risikogruppen und je nach Gruppe die Verpflichtung zur Durchführung von PCR-Tests in unterschiedlichen Zeitabständen.

Als Orchestermusikerin sollte die Klägerin zunächst wie alle Mitarbeiter zu Beginn der Spielzeit einen negativen PCR-Test vorlegen und in der Folge weitere PCR-Tests im Abstand von ein bis drei Wochen vornehmen lassen. Die Bayerische Staatsoper bot hierfür kostenlose PCR-Tests an, alternativ konnten die Mitarbeiter PCR-Testbefunde eines von ihnen selbst ausgewählten Anbieters vorlegen. Der Klägerin wurde mitgeteilt, dass sie ohne Testung nicht an Aufführungen und Proben teilnehmen könne. Sie hat sich geweigert, PCR-Tests durchführen zu lassen und insbesondere gemeint, diese seien zu ungenau und stellten einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit dar. Anlasslose Massentests seien unzulässig.

Der beklagte Freistaat hat daraufhin in der Zeit von Ende August bis Ende Oktober 2020 die Gehaltszahlungen eingestellt. Seit Ende Oktober 2020 legte die Klägerin ohne Anerkennung einer Rechtspflicht PCR-Testbefunde vor.

Mit ihrer Klage hat sie für die Zeit von Ende August bis Ende Oktober 2020 Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs begehrt, hilfsweise die Bezahlung der Zeiten häuslichen Übens. Weiter verlangt sie, ohne Verpflichtung zur Durchführung von Tests jedweder Art zur Feststellung von SARS-CoV-2 beschäftigt zu werden.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die vom Senat nachträglich zugelassene Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg.

2.
Der Arbeitgeber ist nach § 618 Abs. 1 BGB verpflichtet, die Arbeitsleistungen, die unter seiner Leitung vorzunehmen sind, so zu regeln, dass die Arbeitnehmer gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind, als die Natur der Arbeitsleistung es gestattet. Die öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutznormen des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) konkretisieren den Inhalt der Fürsorgepflichten, die dem Arbeitgeber hiernach im Hinblick auf die Sicherheit und das Leben der Arbeitnehmer obliegen.

Zur Umsetzung arbeitsschutzrechtlicher Maßnahmen kann der Arbeitgeber Weisungen nach § 106 Satz 2 GewO hinsichtlich der Ordnung und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb erteilen. Das hierbei zu beachtende billige Ermessen wird im Wesentlichen durch die Vorgaben des ArbSchG konkretisiert.

Hiervon ausgehend war die Anweisung des beklagten Freistaats zur Durchführung von PCR-Tests nach dem betrieblichen Hygienekonzept der Bayerischen Staatsoper rechtmäßig. Die Bayerische Staatsoper hat mit Blick auf die pandemische Verbreitung von SARS-CoV-2 mit diffusem Ansteckungsgeschehen zunächst technische und organisatorische Maßnahmen wie den Umbau des Bühnenraums und Anpassungen bei den aufzuführenden Stücken ergriffen, diese aber als nicht als ausreichend erachtet.

Sie hat sodann – auch um den Vorgaben der Sechsten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmen-Verordnung zu genügen – mit wissenschaftlicher Unterstützung durch das Institut für Virologie der Technischen Universität München und das Klinikum rechts der Isar ein Hygienekonzept erarbeitet, das für Personen aus der Gruppe der Orchestermusiker PCR-Tests alle ein bis drei Wochen vorsah. Hierdurch sollte der Spielbetrieb ermöglicht und die Gesundheit der Beschäftigten geschützt werden.

Die auf diesem Konzept beruhenden Anweisungen an die Klägerin entsprachen billigem Ermessen iSv. § 106 GewO. Der mit der Durchführung der Tests verbundene minimale Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist verhältnismäßig. Auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung macht die Testanordnung nicht unzulässig, zumal ein positives Testergebnis mit Blick auf die infektionsschutzrechtlichen Meldepflichten und die Kontaktnachverfolgung ohnedies im Betrieb bekannt wird. Da hiernach die arbeitgeberseitige Anweisung zur Umsetzung des betrieblichen Hygienekonzepts rechtmäßig war, hat der beklagte Freistaat zu Recht eingewandt (§ 297 BGB), dass Vergütungsansprüche wegen Annahmeverzugs im streitgegenständlichen Zeitraum jedenfalls mit Blick auf den fehlenden Leistungswillen der Klägerin, die die Durchführung von PCR-Tests verweigert hat, nicht bestehen.

Der auf die Bezahlung der Zeiten häuslichen Übens gerichtete Hilfsantrag ist gleichfalls unbegründet. Eine Vergütung dieser Zeiten ist nur geschuldet, soweit sie auf die tarifvertraglich geregelten Dienste – Proben und Aufführungen – bezogen sind. An diesen hat die Klägerin im Streitzeitraum nicht teilgenommen.

Der Beschäftigungsantrag, mit dem die Klägerin ihren Einsatz ohne Verpflichtung zur Durchführung von Tests jedweder Art zur Feststellung von SARS-CoV-2 erreichen wollte, ist als Globalantrag schon deshalb unbegründet, weil bereits der für die Zahlungsanträge maßgebliche Zeitraum zeigt, dass wirksame Testanordnungen möglich sind.
(PM Nr. 12/22 v. 01.06.2022)


 

Gefälschter Corona-Genesenennachweis: fristlose Kündigung gerechtfertigt

30.05.2022  |  Legt Beschäftigter gefälschten Genesenennachweis vor, so kann Arbeitgeber aus wichtigem Grund fristlos kündigen - Verletzung von Rücksichtnahmepflichten - vorherige Abmahnung entbehrlich
(ArbG Berlin, Urteil vom 26.04.2022 - 58 Ca 12302/21) mehr


Mit heute veröffentlichtem Urteil vom 26.04.2022 (58 Ca 12302/21) hat das Arbeitsgericht Berlin Folgendes entschieden:

Die Vorlage eines gefälschten Genesenennachweises anstelle eines erforderlichen tagesaktuellen Corona-Tests oder Impfnachweises kann eine fristlose Kündigung rechtfertigen.

Damit hat das Arbeitsgericht Berlin eine Kündigungsschutzklage abgewiesen. Nach § 28b Absatz 1 Infektionsschutzgesetz in der vom 24.11.2021 bis 19.03.2022 gültigen Fassung durften Beschäftigte Arbeitsstätten, in denen physische Kontakte untereinander oder zu Dritten nicht ausgeschlossen werden können, nur nach Vorlage eines Impfnachweises, eines Genesenennachweises oder eines tagesaktuellen Tests im Sinne der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmeverordnung betreten.

Der als Justizbeschäftigter bei einem Gericht tätige Kläger legte einen Genesenennachweis vor, obwohl bei ihm keine Corona-Erkrankung festgestellt worden war und erhielt so Zutritt zum Gericht ohne Vorlage eines aktuellen Tests oder Impfnachweises. Nachdem festgestellt wurde, dass es sich bei dem Genesenennachweis um eine Fälschung handelte, erklärte das Land Berlin als Arbeitgeber nach Anhörung des Justizbeschäftigten die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Diese Kündigung ist nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts wirksam, der erforderliche wichtige Grund für eine außerordentliche Kündigung liege vor. Der Arbeitgeber habe einen Zutritt nur bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 28b Absatz 1 Infektionsschutzgesetz gewähren dürfen. Den hier geregelten Nachweispflichten komme auch im Hinblick auf den angestrebten Gesundheitsschutz für alle Menschen im Gericht eine erhebliche Bedeutung zu. Deshalb sei die Verwendung eines gefälschten Genesenennachweises zur Umgehung dieser geltenden Nachweispflichten eine erhebliche Verletzung arbeitsvertraglicher Rücksichtnahmepflichten.

Eine vorherige Abmahnung dieses Sachverhaltes sei nicht erforderlich. Es sei für den Kläger als Justizbeschäftigten ohne weiteres erkennbar gewesen, dass ein solches Verhalten nicht hingenommen werde. Auch im Hinblick auf die Dauer des Arbeitsverhältnisses von drei Jahren überwiege das arbeitgeberseitige Interesse an einer sofortigen Beendigung.

Gegen das Urteil kann Berufung beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.
(PM Nr. 12/22 v. 30.05.2022)


 

Überstunden: Ohne besondere Veranlassung und genaue Auflistung kein Entgelt

04.05.2022  |  Für Vergütung von Überstunden muss Arbeitnehmer darlegen, dass Überstunden veranlasst wurden und wann konkret er sie geleistet hat - EuGH-Urteil steht nicht entgegen
(BAG, Urteil vom 04.05.2022 - 5 AZR 359/21) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 04.05.2022 (5 AZR 359/21) Folgendes entschieden:

Der Arbeitnehmer hat zur Begründung einer Klage auf Vergütung geleisteter Überstunden erstens darzulegen, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers hierzu bereitgehalten hat.
Da der Arbeitgeber Vergütung nur für von ihm veranlasste Überstunden zahlen muss, hat der Arbeitnehmer zweitens vorzutragen, dass der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat.

Diese vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätze zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für die Leistung von Überstunden durch den Arbeitnehmer und deren Veranlassung durch den Arbeitgeber werden durch die auf Unionsrecht beruhende Pflicht zur Einführung eines Systems zur Messung der vom Arbeitnehmer geleisteten täglichen Arbeitszeit nicht verändert.

Der Kläger war als Auslieferungsfahrer bei der Beklagten, die ein Einzelhandelsunternehmen betreibt, beschäftigt. Seine Arbeitszeit erfasste der Kläger mittels technischer Zeitaufzeichnung, wobei nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht jedoch die Pausenzeiten aufgezeichnet wurden. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen einen positiven Saldo von 348 Stunden zugunsten des Klägers. Mit seiner Klage hat der Kläger Überstundenvergütung in Höhe von 5.222,67 Euro brutto verlangt. Er hat geltend gemacht, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Pausen zu nehmen sei nicht möglich gewesen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte hat dies bestritten.

Das Arbeitsgericht Emden hat der Klage stattgegeben. Es hat gemeint, durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 14. Mai 2019 – C-55/18 – [CCOO], wonach die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, werde die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess modifiziert. Die positive Kenntnis von Überstunden als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Da die Beklagte ihrerseits nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger dargelegt habe, sei die Klage begründet.

Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage – mit Ausnahme bereits von der Beklagten abgerechneter Überstunden – abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem Fünften Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Das Berufungsgericht hat richtig erkannt, dass vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer auch nicht vor dem Hintergrund der genannten Entscheidung des EuGH abzurücken ist. Diese ist zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen. Nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH beschränken sich diese Bestimmungen darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie finden indes grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit hat deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.

Hiervon ausgehend hat das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen, der Kläger habe nicht hinreichend konkret dargelegt, dass es erforderlich gewesen sei, ohne Pausenzeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Die bloße pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genügt hierfür nicht. Das Berufungsgericht konnte daher offenlassen, ob die von der Beklagten bestrittene Behauptung des Klägers, er habe keine Pausen gehabt, überhaupt stimmt.
(PM 16/22 v. 04.05.2022)


 

Feiertagsarbeit: Ersatzruhetag muss zwingend 24-Stunden-Tag umfassen

13.04.2022  |  Wird Arbeitnehmer am Feiertag beschäftigt, muss ihm als Ersatzruhetag zwingend ein Werktag von 00 Uhr bis 24 Uhr gewährt werden
(BAG, Urteil vom 08.12.2021 - 10 AZR 641/19) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 08.12.2021 (10 AZR 641/19) Folgendes entschieden:

Werden Arbeitnehmer an einem auf einen Werktag fallenden Feiertag beschäftigt, müssen sie nach § 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG einen Ersatzruhetag haben. Ein Ersatzruhetag in diesem Sinn ist ein Werktag, an dem der Arbeitnehmer von 00:00 Uhr bis 24:00 Uhr keine Arbeitsleistung erbringt. Ein davon abweichender individueller Zeitraum mit einer Dauer von 24 Stunden genügt nicht.

Sachverhalt:

Die Parteien streiten über die zeitliche Lage der Ersatzruhetage, die für die Beschäftigung an einem auf einen Werktag fallenden Feiertag gewährt werden (§ 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG).

Bei der Beklagten handelt es sich um einen Logistikdienstleister für die Lebensmittelindustrie. Der Kläger ist im Distributionszentrum der Beklagten in B seit 2006 als LKW-Verlader in Vollzeit ausschließlich in der Nachtschicht beschäftigt. Er nimmt regelmäßig an fünf Tagen in der Woche, beginnend mit dem Sonntag, zwischen 18:00 Uhr und 19:00 Uhr die Arbeit auf und beendet sie am Folgetag zwischen 02:00 Uhr und 03:30 Uhr. An einem wechselnden Werktag wird dem Kläger in jeder Woche ein sog. Rolltag gewährt. Er hat dann nach Schichtende frei und nimmt seine Arbeit erst am Abend des darauffolgenden Werktags wieder auf. Der Kläger beschließt seine Arbeitswoche mit dem Schichtende am Samstagmorgen. Das Schichtsystem hat einen regelmäßigen Einsatz des Klägers an Wochenfeiertagen zur Folge.

Der Kläger hat gemeint, die Beklagte müsse ihm Ersatzruhetage für die Beschäftigung an Feiertagen gewähren, die auf Werktage fallen. Als Ersatzruhetag komme nur ein ganzer Werktag von 00:00 Uhr bis 24:00 Uhr in Betracht. Die wöchentlichen „Rolltage“, an denen er jeweils erst nach Schichtende in den frühen Morgenstunden des einen Tags frei habe und schon am Abend des Folgetags wieder arbeiten müsse, genügten insoweit nicht.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, dem Kläger stünden als Ersatzruhetage nur „individuelle“ Werktage zu, deren zeitliche Lage sich an den persönlichen Arbeitszeiten des Klägers orientiere. Als Ersatzruhetage genügten die wöchentlichen „Rolltage“ den Anforderungen des § 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG, zumal sie unmittelbar in Verbindung mit der elfstündigen Ruhezeit nach § 5 ArbZG gewährt würden und damit auch der Vorgabe des § 11 Abs. 4 ArbZG entsprächen.

Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Es hat den Entscheidungsausspruch des Arbeitsgerichts dahin klargestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger bei einem Einsatz an einem auf einen Werktag fallenden Feiertag den Ersatzruhetag nach § 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG an einem Werktag von 00:00 Uhr bis 24:00 Uhr zu gewähren. Mit ihrer Revision möchte die Beklagte erreichen, dass die Klage abgewiesen wird.

Entscheidungsgründe:

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat ohne Rechtsfehler entschieden, dass der Kläger Anspruch auf einen Ersatzruhetag in Form eines von 00:00 Uhr bis 24:00 Uhr arbeitsfreien Werktags hat, wenn er an einem auf einen Werktag fallenden Feiertag beschäftigt wird.

Die Auslegung des § 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG ergibt, dass der Ersatzruhetag ein Werktag – und kein Feiertag – ist, an dem der Arbeitnehmer von 00:00 Uhr bis 24:00 Uhr keine Arbeitsleistung erbringt.

Soweit in § 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG allerdings von dem „Beschäftigungstag“ die Rede ist, dürfte damit der Kalendertag bezeichnet sein, der der Berechnung des Ausgleichszeitraums zugrunde liegt. Das spricht für ein Wortlautverständnis dahin, dass der für die Feiertagsbeschäftigung zu gewährende Ersatzruhetag ebenfalls einen ganzen Kalendertag umfasst.

Die ersatzweise Freistellung an einem anderen Werktag dient dem Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer.
Der wöchentliche „Rolltag“, den die Beklagte dem Kläger gewährt, entspricht nicht den Anforderungen an einen Ersatzruhetag iSv. § 11 Abs. 3 Satz 2 ArbZG.

Bei Beschäftigung in einer Fünf-Tage-Woche kann zwar ein ohnehin arbeitsfreier Werktag der Ersatzruhetag sein.Der Kläger wird jedoch an jedem der beiden Kalendertage beschäftigt, über die sich der „Rolltag“ erstreckt. Am ersten Tag arbeitet er bis mindestens 02:00 Uhr und am Folgetag ab spätestens 19:00 Uhr. Damit bezieht sich die Arbeitsruhe am „Rolltag“ nicht auf einen ganzen Werktag.


 

Quarantäne während des Urlaubs, aber nicht krank - Urlaubsanspruch entsprechend verringert

21.03.2022  |  Muss ein Arbeitnehmer während des Urlaubs in Quarantäne, ohne dass er arbeitsunfähig krank ist, wird der Urlaub vollständig auf seinen gesamten Jahresrlaubsanspruch angerechnet
(LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 15.02.2022 - 1 Sa 208/21) mehr


Das LAG Schleswig-Holstein hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 15.02.2022 (1 Sa 208/21) Folgendes entschieden:

Eine Arbeitgeberin hat auch dann den beantragten Urlaub zutreffend und rechtswirksam gewährt, wenn sich ihr Arbeitnehmer während des Urlaubs – ohne selbst infiziert zu sein – nur aufgrund eines Kontaktes mit einer an Covid-19 erkrankten Person in Quarantäne begeben muss. Diese Urlaubstage werden dann auch auf den gesamten Urlaubsanspruch angerechnet.

Die Arbeitgeberin hatte dem klagenden Arbeitnehmer wie von ihm beantragt Urlaub für den 23. bis 31. Dezember 2020 genehmigt. Danach ordnete das Gesundheitsamt für den Kläger für den Zeitraum 21. Dezember 2020 bis 4. Januar 2021 Quarantäne an. Die Beklagte zahlte für die beantragte Zeit Urlaubsentgelt und rechnete die Tage auf den Urlaubsanspruch des Klägers an.

Der Kläger ist der Auffassung, dass sein Urlaubsanspruch insoweit nicht erfüllt worden sei und nach wie vor bestehe. Die Arbeitgeberin habe ihm für Dezember 2020 nicht wirksam Urlaub gewährt. § 9 BUrlG sei zumindest analog anzuwenden. Es liege eine planwidrige und analogiefähige Regelungslücke vor. Die häusliche Quarantäne stelle einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte des Arbeitnehmers dar und sei mit den Einschränkungen bei „normaler Arbeitsunfähigkeit“ durchaus vergleichbar.

Dieser Argumentation ist das Landesarbeitsgericht ebenso wie bereits zuvor das Arbeitsgericht nicht gefolgt und die KLage abgewiesen.

§ 9 BUrlG ist nicht analog auf den Fall der Anordnung einer Quarantäne anzuwenden. Eine Analogie erfordert sowohl eine planwidrige Lücke als auch eine vergleichbare Interessenlage. Es liegt schon keine planwidrige Lücke vor. Die Begrifflichkeiten, u.a. des Ansteckungsverdächtigen sind seit langem bekannt. Sie wurden aus dem BSeuchG in das Infektionsschutzgesetz übernommen. Das BAG vertritt durchgehend seit über 25 Jahren die Auffassung, dass eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG wegen seines Ausnahmecharakters nicht in Betracht kommt. Der Gesetzgeber hat auf diese Rechtsprechung reagiert und eine § 9 BUrlG entsprechende Regelung für den Fortbestand des Urlaubsanspruchs während eines Beschäftigungsverbotes im MuSchG eingefügt (§ 24 S. 2), nicht aber eine Regelung im Infektionsschutzgesetz. Die vom Kläger angeführte BGH-Entscheidung (30. November 1978 – III ZR 43/77 -) ist angesichts der ständigen Rechtsprechung des BAG überholt und hält gerade nicht fest, dass ein Arbeitnehmer, der seuchenrechtlich als „Ausscheider“, aber nicht „krank im Sinne des BUrlG“ eingestuft ist, generell seinen Urlaub nicht in Anspruch nehmen kann.

Auch ist der Fall der Absonderungsanordnung unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes und zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen nicht mit der Arbeitsunfähigkeit während des Urlaubs gleichzusetzen. Vorgaben für den Arbeitnehmer, wie er seinen Urlaub zu verbringen hat, gibt es nicht. Wie der Arbeitnehmer sich erholt, bleibt ihm überlassen. Unter Umständen wird er durch eine Absonderung überhaupt nicht in der Verwirklichung seines Urlaubszwecks beeinträchtigt. Die analoge Anwendung von § 9 BUrlG kann aber nicht davon abhängen, wie ein Arbeitnehmer im konkreten Fall beabsichtigt, seinen Urlaub zu verbringen.

Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der in Rede stehenden Rechtsfrage zugelassen worden. Die Entscheidung ist daher noch nicht rechtskräftig.
(PM Nr. 1/2022 v. 21.03.2022)


 

Keine Corona-Schutzimpfung: Kündigung des Arbeitsvertrages kann zulässig sein

02.03.2022  |  Ist Beschäftigter trotz betrieblich angeordneter Corona-Schutzimpfung ungeimpft, kann das Arbeitsverhältnis ordentlich gekündigt werden - Arbeitgeber kann sich auf unternehmerische Freiheit bei "2G-Modell" stützen
(ArbG Berlin, Urteil vom 02.03.2022 - 17 Ca 11178/21) mehr


Das Arbeitsgericht Berlin hat mit Urteil vom 02.03.2022 (17 Ca 1117/21) Folgendes entschieden:

Ein Arbeitgeber darf in einem Musicalaufführungsbetrieb ein „2G-Modell“ durchsetzen und einer Darstellerin, die über keine Corona-Schutzimpfung verfügt, noch vor Vertragsbeginn kündigen.

Im zugrundeliegenden Fall hatte die Klägerin mit zwei Veranstaltungsgesellschaften Arbeitsverträge für die Proben und die Beschäftigung in einem Musical geschlossen. Vor Vertragsbeginn erfuhren die Arbeitgeberinnen, dass die Klägerin ungeimpft war und kündigten die Arbeitsverhältnisse ordentlich fristgerecht. Die Klägerin hatte angeboten, täglich Testnachweise vorzulegen.

Die Arbeitnehmerin ist mit ihrer Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht Berlin unterlegen. Das Arbeitsgericht Berlin hat die Kündigungen für wirksam erachtet.

Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Kündigungen insbesondere keine Maßregelung gemäß § 612a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) darstellen würden. Die persönliche Haltung der Klägerin zur Corona-Schutzimpfung sei nicht tragendes Motiv für den Kündigungsentschluss gewesen, sondern habe lediglich den Anlass zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegeben.

Der Arbeitgeber könne als Ausdruck seiner unternehmerischen Entscheidungsfreiheit das „2G-Modell“ als allgemeingültiges Anforderungsprofil für alle Arbeitsplätze im Betrieb durchsetzen. Wenn dies mit der höchstpersönlichen Entscheidung der Klägerin, sich nicht impfen zu lassen, unvereinbar sei, liege keine Maßregelung vor. Der Ausschluss nicht geimpfter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstoße auch nicht gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG).

Auch sei das „2G-Modell“ nicht willkürlich gewählt, da insbesondere das tägliche Vorlegen eines negativen Corona-Testergebnisses die Betriebsabläufe stärker beeinträchtigen und die Beschäftigung nicht geimpfter Personen aufgrund der strengeren Quarantäneregelungen ein höheres Risiko für etwaige Personalausfälle für den Musicalbetrieb darstellen würde. Die Klägerin könne nicht verlangen, dass die Arbeitgeberinnen ein Schutzkonzept umsetzen, das einen höheren Kosten- und Personalaufwand verursache, da neben der unternehmerischen Handlungsfreiheit der Arbeitgeberinnen auch die körperliche Unversehrtheit der übrigen Belegschaft zu berücksichtigen sei.

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig; gegen sie kann Berufung zum Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt werden.
(PM Nr. 03/2022 v. 02.03.2022)


 

Auch in Probezeit: Ist behinderter Beschäftigter für Stelle ungeeignet, muss Umsetzung versucht werden

10.02.2022  |  Anspruch eines Arbeitnehmers mit Behinderung auf anderweitige Verwendung - Voraussetzungen: entsprechende Fähigkeiten, freier Arbeitsplatz und keine unverhältnismäßige Belastung des Arbeitgebers
(EuGH, Urteil vom 10.02.2022 - C-465/20) mehr


Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 10.02.2022 (C-485/20) Folgendes entschieden:

Ein Arbeitnehmer mit Behinderung – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der für ungeeignet erklärt wird, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, kann einen Anspruch auf Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz haben, für den er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist; eine solche Maßnahme darf den Arbeitgeber jedoch nicht unverhältnismäßig belasten.

HR Rail ist die einzige Arbeitgeberin der Bediensteten der belgischen Eisenbahn. Im November 2016 stellte sie einen Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege ein, der seine Probezeit bei der für den Betrieb der Infrastruktur der belgischen Eisenbahn zuständigen Gesellschaft Infrabel begann. Im Dezember 2017 wurde bei diesem Bediensteten in der Probezeit ein Herzproblem diagnostiziert, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte. Dabei handelt es sich um ein Gerät, das sensibel auf elektromagnetische Felder reagiert, die u. a. in Gleisanlagen auftreten. Aus diesem Grund anerkannte der belgische Service public fédéral Sécurité sociale (Föderaler öffentlicher Dienst Soziale Sicherheit) eine Behinderung des Klägers. Im Juni 2018 erklärte das mit der Beurteilung der medizinischen Eignung von statutarischen Bediensteten der belgischen Eisenbahn betraute Centre régional de la médecine de l'administration (Regionales Zentrum für Verwaltungsmedizin, Belgien) den Bediensteten für ungeeignet, die Funktionen, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen. Er wurde daraufhin innerhalb desselben Unternehmens als Lagerist eingesetzt.

Am 26. September 2018 informierte der Leitende Berater von HR Rail den Bediensteten über seine Entlassung zum 30. September 2018, und zwar mit einem für die Dauer von fünf Jahren geltenden Verbot einer Wiedereinstellung in der Besoldungsgruppe, in der er eingestellt worden war. Einen Monat später teilte der Generaldirektor von HR Rail dem Bediensteten mit, dass seine Probezeit beendet worden sei, da es ihm endgültig völlig unmöglich sei, die Aufgaben, für die er eingestellt worden sei, zu erfüllen. Anders als für statutarische Bedienstete sei für Bedienstete in der Probezeit, bei denen eine Behinderung anerkannt werde und die daher nicht mehr in der Lage seien, ihre Tätigkeit auszuüben, gemäß der Satzung und der für die Bediensteten der belgischen Eisenbahn geltenden Regelung keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens vorgesehen.

Der Bedienstete beantragte beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien), die Entscheidung über seine Entlassung für nichtig zu erklären. Der Staatsrat hat den Gerichtshof um Erläuterungen zur Auslegung der Richtlinie 2000/78 für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf1, insbesondere zum Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ ersucht.

In seinem Urteil vom 10.02.2022 stellt der Gerichtshof fest, dass dieser Begriff impliziert, dass ein Arbeitnehmer – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.

Einleitend weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie 2000/78 einen allgemeinen Rahmen schaffen soll, der gewährleistet, dass jeder „in Beschäftigung und Beruf“ gleichbehandelt wird, indem sie dem Betroffenen einen wirksamen Schutz vor Diskriminierungen bietet, wozu auch die Behinderung zählt.

Der Gerichtshof stellt klar, dass die Richtlinie in Bezug auf die Bedingungen für den Zugang zu unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit und den Zugang zu allen Formen und allen Ebenen der Berufsberatung, der Berufsausbildung, der beruflichen Weiterbildung und der Umschulung gilt. Die Bestimmung ist weit genug gefasst, um auf den Fall eines Arbeitnehmers anwendbar zu sein, der nach der Einstellung durch seinen Arbeitgeber zu Ausbildungszwecken eine Probezeit absolviert. Folglich führt der Umstand, dass der HR Rail-Bedienstete zum Zeitpunkt seiner Entlassung kein endgültig eingestellter Bediensteter war, nicht dazu, dass seine berufliche Situation vom Geltungsbereich der Richtlinie 2000/78 ausgenommen ist.

Der Gerichtshof erinnert sodann daran, dass gemäß dieser Richtlinie „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen sind, um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Der Arbeitgeber hat also die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden ihn unverhältnismäßig belasten.
Zu den geeigneten Maßnahmen zählen gemäß der Richtlinie „wirksame und praktikable Maßnahmen, um den Arbeitsplatz der Behinderung entsprechend einzurichten, z. B. durch eine entsprechende Gestaltung der Räumlichkeiten oder eine Anpassung des Arbeitsgeräts, des Arbeitsrhythmus, der Aufgabenverteilung oder des Angebots an Ausbildungs- und Einarbeitungsmaßnahmen“. Der Gerichtshof führt aus, dass es sich dabei um eine nicht abschließende Aufzählung geeigneter Maßnahmen handelt, die die Arbeitsumgebung, die Arbeitsorganisation und/oder die Aus- und Fortbildung betreffen können. Die Richtlinie enthält eine weite Definition des Begriffs „angemessene Vorkehrungen“.
Nach Auffassung des Gerichtshofs kann es im Rahmen „angemessener Vorkehrungen“ eine geeignete Maßnahme darstellen, einen Arbeitnehmer, der wegen des Entstehens einer Behinderung für seinen Arbeitsplatz endgültig ungeeignet geworden ist, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden. Eine solche Auslegung ist mit diesem Begriff vereinbar, der dahin zu verstehen ist, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasst, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behindern.
Allerdings weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie 2000/78 den Arbeitgeber nicht dazu verpflichten kann, Maßnahmen zu ergreifen, die ihn „unverhältnismäßig belasten“. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Maßnahmen zu übermäßigen Belastungen führen, sollten insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten berücksichtigt werden.

Im Übrigen stellt der Gerichtshof fest, dass die Möglichkeit, eine Person mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, jedenfalls voraussetzt, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann.
(PM Nr. 26/2022 v. 10.02.2022)


 

Unbefugte Weitergabe privater E-Mail: fristlose Kündigung gerechtfertigt

03.01.2022  |  Datenschutz im Arbeitsverhältnis: Gibt Arbeitnehmer eine offensichtlich private E-Mail weiter, so verletzt er schwerwiegend die Persönlichkeitsrechte des E-Mail-Empfängers
(LAG Köln, Urteil vom 02.11.2021 - 4 Sa 290/21) mehr

Das Landesarbeitsgericht Köln hat mit heute veröffentlichtem Urteil vom 02.11.2021 ( 4 Sa 290/21) Folgendes entschieden:

Liest eine Arbeitnehmerin, die im Rahmen ihrer Buchhaltungsaufgaben Zugriff auf den PC und das E-Mail-Konto ihres Arbeitgebers hat, unbefugt eine an ihren Vorgesetzten gerichtete Email und fertigt von dem Anhang einer offensichtlich privaten E-Mail eine Kopie an, die sie an eine dritte Person weitergibt, so rechtfertigt dies eine fristlose Kündigung.

Die Klägerin ist bei der Arbeitgeberin, einer evangelischen Kirchengemeinde, seit 23 Jahren als Verwaltungsmitarbeiterin beschäftigt. Soweit für ihre Buchhaltungsaufgaben erforderlich hatte sie Zugriff auf den Dienstcomputer des Pastors. In diesem Dienstcomputer nahm die Klägerin eine E-Mail zur Kenntnis, die den Pastor auf ein gegen ihn gerichtetes Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts sexueller Übergriffe auf eine im Kirchenasyl der Gemeinde lebende Frau hinwies. Im E-Mail-Konto fand sie als Anhang einer privaten E-Mail einen Chatverlauf zwischen dem Pastor und der betroffenen Frau, den sie auf einem USB-Stick speicherte und eine Woche später anonym an eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Gemeinde weiterleitete. Die Klägerin gab an, sie habe die im Kirchenasyl lebende Frau schützen und Beweise sichern wollen. Nach Bekanntwerden der Vorkommnisse kündigte die Kirchengemeinde das Arbeitsverhältnis fristlos.

Erstinstanzlich hatte die Klägerin mit ihrer Kündigungsschutzklage vor dem ArbG Aachen Erfolg. Das Gericht erkannte in ihrem Verhalten zwar einen an sich wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung, hielt diese jedoch aufgrund des langen und bisher unbelastet verlaufenen Arbeitsverhältnisses und mangels Wiederholungsgefahr für unverhältnismäßig.

Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Kirchengemeinde hatte Erfolg. Das Landesarbeitsgericht Köln sah das für die Aufgaben der Klägerin notwendige Vertrauensverhältnis als unwiederbringlich zerstört an. In der unbefugten Kenntnisnahme und Weitergabe fremder Daten lag für das Gericht auch wegen der damit einhergehenden Verletzung von Persönlichkeitsrechten ein schwerwiegender Verstoß gegen die arbeitsvertragliche Rücksichtnahmepflicht. Dieser sei auch nicht durch die von der Klägerin vorgetragenen Beweggründe, die im Kirchenasyl lebende Frau schützen und Beweise sichern zu wollen, gerechtfertigt gewesen. Denn mit ihrer Vorgehensweise habe die Klägerin keines der angegebenen Ziele erreichen können. Angesichts der Schwere der Pflichtverletzung überwiege das Lösungsinteresse der Gemeinde das Beschäftigungsinteresse der Klägerin deutlich. Selbst die erstmalige Hinnahme dieser Pflichtverletzung sei der Gemeinde nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich - auch für die Klägerin erkennbar – ausgeschlossen.
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen.
(PM v. 03.01.2022)


 

 

Kurzarbeit "Null": Kein anteiliger Urlaubsanspruch

30.11.2021  |  Besteht bei Kurzarbeit keine Arbeitspflicht, dann kann Jahresurlaub entsprechend anteilig gekürzt werden - hiervon kann auch in einer Betriebsvereinbarng nicht abgewichen werden
(BAG, Urteile vom 30.11.2021 - 9 AZR 225/21; 9 AZR 234/21) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteilen vom 30.11.2021 (9 AZR 225/21; 9 AZR 234/21) Folgendes entschieden:

Fallen aufgrund von Kurzarbeit einzelne Arbeitstage vollständig aus, ist dies bei der Berechnung des Jahresurlaubs zu berücksichtigen.
Diese Grundsätze auch dann Anwendung finden, wenn die Kurzarbeit wirksam aufgrund einer Betriebsvereinbarung eingeführt worden ist.

Die Klägerin ist bei der Beklagten drei Tage wöchentlich als Verkaufshilfe mit Backtätigkeiten beschäftigt. Bei einer Sechstagewoche hätte ihr nach dem Arbeitsvertrag ein jährlicher Erholungsurlaub von 28 Werktagen zugestanden. Dies entsprach bei einer vereinbarten Dreitagewoche einem Urlaubsanspruch von 14 Arbeitstagen.

Aufgrund Arbeitsausfalls durch die Corona-Pandemie führte die Beklagte Kurzarbeit ein. Dazu trafen die Parteien Kurzarbeitsvereinbarungen, auf deren Grundlage die Klägerin ua. in den Monaten April, Mai und Oktober 2020 vollständig von der Arbeitspflicht befreit war und in den Monaten November und Dezember 2020 insgesamt nur an fünf Tagen arbeitete.

Aus Anlass der kurzarbeitsbedingten Arbeitsausfälle nahm die Beklagte eine Neuberechnung des Urlaubs vor. Sie bezifferte den Jahresurlaub der Klägerin für das Jahr 2020 auf 11,5 Arbeitstage. Dagegen hat sich die Klägerin mit der vorliegenden Klage gewandt. Sie hat den Standpunkt eingenommen, kurzarbeitsbedingt ausgefallene Arbeitstage müssten urlaubsrechtlich wie Arbeitstage gewertet werden. Die Beklagte sei daher nicht berechtigt gewesen, den Urlaub zu kürzen. Für das Jahr 2020 stünden ihr weitere 2,5 Urlaubstage zu.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Revision der Klägerin hatte beim Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf weitere 2,5 Arbeitstage Erholungsurlaub für das Kalenderjahr 2020.

Nach § 3 Abs. 1 BUrlG beläuft sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei einer gleichmäßigen Verteilung der Arbeit auf sechs Tage in der Woche auf 24 Werktage. Ist die Arbeitszeit eines Arbeitnehmers nach dem Arbeitsvertrag auf weniger oder mehr als sechs Arbeitstage in der Kalenderwoche verteilt, ist die Anzahl der Urlaubstage grundsätzlich unter Berücksichtigung des für das Urlaubsjahr maßgeblichen Arbeitsrhythmus zu berechnen, um für alle Arbeitnehmer eine gleichwertige Urlaubsdauer zu gewährleisten (24 Werktage x Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage). Dies gilt entsprechend für den vertraglichen Mehrurlaub, wenn die Arbeitsvertragsparteien – wie im vorliegenden Fall – für die Berechnung des Urlaubsanspruchs keine von § 3 Abs. 1 BUrlG abweichende Vereinbarung getroffen haben.

Bei der vertraglichen Dreitagewoche der Klägerin errechnete sich zunächst ein Jahresurlaub von 14 Arbeitstagen (28 Werktage x 156 Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage). Der kurzarbeitsbedingte Ausfall ganzer Arbeitstage rechtfertigte eine unterjährige Neuberechnung des Urlaubsanspruchs. Aufgrund einzelvertraglich vereinbarter Kurzarbeit ausgefallene Arbeitstage sind weder nach nationalem Recht noch nach Unionsrecht Zeiten mit Arbeitspflicht gleichzustellen. Der Urlaubsanspruch der Klägerin aus dem Kalenderjahr 2020 übersteigt deshalb nicht die von der Beklagten berechneten 11,5 Arbeitstage. Allein bei Zugrundelegung der drei Monate, in denen die Arbeit vollständig ausgefallen ist, hätte die Klägerin lediglich einen Urlaubsanspruch von 10,5 Arbeitstagen (28 Werktage x 117 Tage mit Arbeitspflicht geteilt durch 312 Werktage).

In einer weiteren Sache hat der Neunte Senat erkannt, dass diese Grundsätze auch dann Anwendung finden, wenn die Kurzarbeit wirksam aufgrund einer Betriebsvereinbarung eingeführt worden ist.
(PM 41/21 v. 30.11.2021)


 

COVID-19-Quarantäne: Nachgewährung von Urlaub nur bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit

15.10.2021  |  Arbeitsunfähigkeit infolge Quarantäne-Anordnung nicht mit Krankheit gleichzusetzen - Arbeitgeber muss Urlaub nicht nachgewähren
(LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.10.2021 - 7 Sa 857/21) mehr


Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hat mit Urteil vom 15.10.2021 (7 Sa 857/21) Folgendes entschieden:

§ 9 BUrlG unterscheidet zwischen Erkrankung und darauf beruhender Arbeitsunfähigkeit. Beide Begriffe sind nicht gleichzusetzen. Die Nichtanrechnung der Urlaubstage bei bereits bewilligtem Urlaub erfordert, dass durch ein ärztliches Zeugnis die Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Erkrankung nachgewiesen ist. Eine Erkrankung mit COVID-19 führt z.B. bei einem symptomlosen Verlauf nicht automatisch zu einer Arbeitsunfähigkeit.

Sachverhalt:
Die Klägerin, eine Maschinenbedienerin in einem Produktionsbetrieb, befand sich in der Zeit vom 10.12.2020 bis zum 31.12.2020 in bewilligtem Erholungsurlaub. Nach einem Kontakt mit ihrer mit COVID-19 infizierten Tochter ordnete das Gesundheitsamt zunächst eine häusliche Quarantäne bis zum 16.12.2020 an. Bei einer Testung am 16.12.2020 wurde bei der Klägerin eine Infektion mit COVID-19 festgestellt. Daraufhin ordnete das Gesundheitsamt für die Klägerin mit Bescheid vom 17.12.2020 häusliche Quarantäne vom 06.12.2020 bis zum 23.12.2020 an. Das Schreiben enthielt den Hinweis, dass die Klägerin als Kranke im Sinne des § 2 Nr. 4 IfSG anzusehen sei. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch einen Arzt ließ sich die Klägerin nicht ausstellen.

Die Klägerin verlangt von ihrer Arbeitgeberin die Nachgewährung von zehn Urlaubstagen für die Zeit vom 10.12.2020 bis 23.12.2020.

Sie meint, diese seien wegen der durch das Gesundheitsamt verhängten Quarantäne nicht verbraucht. Die Arbeitgeberin ist der Ansicht, dass sie den Urlaubsanspruch der Klägerin auch in diesem Zeitraum erfüllt habe. Der Landschaftsverband lehne in derartigen Fällen Erstattungsanträge mit der Begründung ab, dass für bereits genehmigten Urlaub kein Verdienstausfall entstehe und die Voraussetzung für eine Erstattung nach dem Infektionsschutzgesetz deshalb nicht erfüllt
sei.

Entscheidung:
Die 7. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf hat ebenso wie das Arbeitsgericht Oberhausen die Klage abgewiesen und dies mit der gesetzlichen Regelung in § 9 BUrlG begründet.

Die Vorschrift unterscheidet zwischen Erkrankung und darauf beruhender Arbeitsunfähigkeit. Beide Begriffe sind nicht gleichzusetzen. Danach erfordert die Nichtanrechnung der Urlaubstage bei bereits bewilligtem Urlaub, dass durch ein ärztliches Zeugnis nachgewiesen ist, dass aufgrund der Erkrankung Arbeitsunfähigkeit gegeben ist. Daran fehle es hier. Aus dem Bescheid des Gesundheitsamts ergibt sich lediglich, dass die Klägerin an COVID-19 erkrankt war. Eine Beurteilung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin und dies durch einen Arzt wurde nicht vorgenommen.

Eine analoge Anwendung der eng begrenzten Ausnahmevorschrift des § 9 BUrlG kommt nicht in Betracht. Nach der Konzeption des BUrlG fallen urlaubsstörende Ereignisse als Teil des persönlichen Lebensschicksals grundsätzlich in den Risikobereich des einzelnen Arbeitnehmers. Eine Analogie kommt nur in Betracht, wenn generell und nicht nur ggfs. im konkreten Einzelfall eine COVID-19-Infektion zu Arbeitsunfähigkeit führt. Dies ist nicht der Fall. Eine Erkrankung mit COVID-19 führt z.B. bei einem symptomlosen Verlauf nicht automatisch zu einer Arbeitsunfähigkeit. Es liegt damit bei einer COVID-19-Infektion keine generelle Sachlage vor, die eine entsprechende Anwendung von § 9 BUrlG rechtfertigt.
Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.
(PM v. 15.10.2021)


 

"Corona-Lockdown": Kein Entgelt bei Betriebsschließung

13.10.2021  |  Wird Betrieb aufgrund allgemeiner Anordnung geschlossen, um die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen, entfällt auch der Vergütungsanspruch - Schließung folgt nicht wegen "Betriebsrisikos"
(BAG, Urteil vom 13.10.2021 - 5 AZR 211/21) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 13.10.2021 (5 AZR 211/21) Folgendes entschieden:

Muss der Arbeitgeber seinen Betrieb aufgrund eines staatlich verfügten allgemeinen „Lockdowns“ zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vorübergehend schließen, trägt er nicht das Risiko des Arbeitsausfalls und ist nicht verpflichtet, den Beschäftigten Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs zu zahlen.

Die Beklagte betreibt einen Handel mit Nähmaschinen und Zubehör und unterhält in Bremen eine Filiale. Dort ist die Klägerin seit Oktober 2019 als geringfügig Beschäftigte gegen eine monatliche Vergütung von 432,00 Euro im Verkauf tätig. Im April 2020 war das Ladengeschäft aufgrund der „Allgemeinverfügung über das Verbot von Veranstaltungen, Zusammenkünften und der Öffnung bestimmter Betriebe zur Eindämmung des Coronavirus“ der Freien Hansestadt Bremen vom 23. März 2020 geschlossen. Deshalb konnte die Klägerin nicht arbeiten und erhielt auch keine Vergütung.

Mit ihrer Klage hat sie die Zahlung ihres Entgelts für den Monat April 2020 unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs begehrt. Sie hat gemeint, die Schließung des Betriebs aufgrund behördlicher Anordnung sei ein Fall des von der Beklagten als Arbeitgeberin zu tragenden Betriebsrisikos.

Dagegen hat die Beklagte Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, die von der Freien Hansestadt Bremen zur Pandemiebekämpfung angeordneten Maßnahmen beträfen das allgemeine Lebensrisiko, das nicht beherrschbar und von allen gleichermaßen zu tragen sei.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision der Beklagten hat Erfolg. Die Klägerin hat für den Monat April 2020, in dem ihre Arbeitsleistung und deren Annahme durch die Beklagte aufgrund der behördlich angeordneten Betriebsschließung unmöglich war, keinen Anspruch auf Entgeltzahlung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs. Der Arbeitgeber trägt auch nicht das Risiko des Arbeitsausfalls, wenn – wie hier – zum Schutz der Bevölkerung vor schweren und tödlichen Krankheitsverläufen infolge von SARS-CoV-2-Infektionen durch behördliche Anordnung in einem Bundesland die sozialen Kontakte auf ein Minimum reduziert und nahezu flächendeckend alle nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Einrichtungen geschlossen werden. In einem solchen Fall realisiert sich nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung ist vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage.

Es ist Sache des Staates, gegebenenfalls für einen adäquaten Ausgleich der den Beschäftigten durch den hoheitlichen Eingriff entstehenden finanziellen Nachteile – wie es zum Teil mit dem erleichterten Zugang zum Kurzarbeitergeld erfolgt ist – zu sorgen. Soweit ein solcher – wie bei der Klägerin als geringfügig Beschäftigter – nicht gewährleistet ist, beruht dies auf Lücken in dem sozialversicherungsrechtlichen Regelungssystem. Aus dem Fehlen nachgelagerter Ansprüche lässt sich jedoch keine arbeitsrechtliche Zahlungspflicht des Arbeitgebers herleiten.
(PM Nr. 31/21 v. 13.10.2021)


 

Weigerung des Masken-Tragens: Kündigung des Arbeitsverhältnisses zulässig

08.10.2021  |  Lehnt Arbeitnehmer trotz Abmahnung das Tragen einer Corona-Schutzmaske ab, kann Arbeitsverhältnis sogar außerordentlich gekündigt werden
(LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07.10.2021 - 10 Sa 867/21) mehr


Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat mit heute veröffentlichten Urteil vom 07.10.2021 (10 Sa 867/21) Folgendes entschieden:

Die außerordentliche Kündigung eines brandenburgischen Lehrers, der die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes ablehnte, ist wirksam; die Kündigungsschutzklage wird unter Abänderung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung abgewiesen.

Zur Begründung hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, die Kündigung sei aufgrund der Äußerungen gegenüber der Schulelternsprecherin in E-Mails an diese gerechtfertigt. Eine E-Mail enthielt neben Ausführungen zur allgemeinen Bewertung der Maskenpflicht in der Schule („bin ich der Meinung, dass diese „Pflicht“ eine Nötigung, Kindesmissbrauch, ja sogar vorsätzliche Körperverletzung bedeutet.“), auch die Aufforderung an die Eltern, mit einem vorformulierten zweiseitigen Schreiben gegen die Schule vorzugehen.

Eine Abmahnung liege vor, der Kläger selbst verweise auf eine Erklärung des beklagten Landes, er müsse mit einer Kündigung rechnen, wenn er nicht von seinem Verhalten Abstand nehme.

Im Folgenden habe der Kläger jedoch mit einer erneuten Erklärung per E-Mail gegenüber der Elternvertreterin und weiteren Stellen an seinen Äußerungen festgehalten.

Als weiteren Kündigungsgrund nannte das Landesarbeitsgericht die beharrliche Weigerung des Klägers, im Schulbetrieb einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Das dann vorgelegte, aus dem Internet bezogene Attest eines österreichischen Arztes rechtfertige keine Befreiung.

Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht nicht zugelassen.
(PM Nr. 39/21 v. 08.10.2021)


 

Arbeitsunfähig nach Kündigung? "Passgenaue" Bescheinigung kein Beweis mehr

08.09.2021  |  Beweiswert des "Gelben Zettels" ist erschüttert, wenn Beginn und Dauer der AU mit der Kündigungsfrist übereinstimmen und Arbeitnehmer nichts weiter vorträgt
(BAG, Urteil vom 08.09.2021 - 5 AZR 149/21) mehr


Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21) Folgendes entschieden:

Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.

Die Klägerin war bei der Beklagten seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 8. Februar 2019 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis zum 22. Februar 2019 und legte der Beklagten eine auf den 8. Februar 2019 datierte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor.

Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung der Klägerin abdecke. Die Klägerin hat demgegenüber geltend gemacht, sie sei ordnungsgemäß krankgeschrieben gewesen und habe vor einem Burn-Out gestanden.

Die Vorinstanzen haben der auf Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 8. Februar bis zum 22. Februar 2019 gerichteten Zahlungsklage stattgegeben.

Die vom Senat nachträglich zugelassene Revision der Beklagten hat Erfolg.

Die Klägerin hat die von ihr behauptete Arbeitsunfähigkeit im Streitzeitraum zunächst mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen. Diese ist das gesetzlich vorgesehene Beweismittel.

Dessen Beweiswert kann der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Gelingt das dem Arbeitgeber, muss der Arbeitnehmer substantiiert darlegen und beweisen, dass er arbeitsunfähig war.

Der Beweis kann insbesondere durch Vernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Befreiung von der Schweigepflicht erfolgen. Nach diesen Grundsätzen hat die Beklagte den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert. Die Koinzidenz zwischen der Kündigung vom 8. Februar zum 22. Februar 2019 und der am 8. Februar bis zum 22. Februar 2019 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründet einen ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit. Die Klägerin ist im Prozess ihrer Darlegungslast zum Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit – auch nach Hinweis des Senats – nicht hinreichend konkret nachgekommen. Die Klage war daher abzuweisen.
(PM Nr. 25/21 v. 08.09.2021)


 

Homeoffice: Arbeitgeber darf Rückkehr des Arbeitnehmers anordnen

07.09.2021  |  "Rückholung" aus dem Homeoffice vom Direktionsrecht gedeckt, wenn keine speziellen Regelungen  bestehen - Bedeutung haben z.B. technische Ausstattung und Geschäftsgeheimnisschutz 
(LAG München, Urteil vom 31.08.2021 - 3 SaGa 13/21) mehr


Das Landesarbeitsgericht München hat mit jetzt veröffentlichtem Urteil vom 26.08.2021 (3 SaGa 13/21) Folgendes entschieden:

Ein Arbeitgeber, der seinem Arbeitnehmer gestattet hatte, seine Tätigkeit von zuhause aus zu erbringen, ist berechtigt, seine Weisung bei Vorliegen betrieblicher Gründe wieder zu ändern.

Der Arbeitnehmer war als Grafiker in Vollzeit beschäftigt. Seit Dezember 2020 arbeiteten die sonst im Büro tätigen Mitarbeiter aufgrund Erlaubnis des Geschäftsführers an ihrem jeweiligen Wohnort mitAusnahme des Sekretariats, das im eingeschränkten Umfang vor Ort im Büro in München anwesendblieb. Mit Weisung vom 24.02.2021 hat der Arbeitgeber gegenüber dem Kläger angeordnet, die Tätigkeit als Grafiker wieder unter Anwesenheit im Büro in München zu erbringen.

Der Arbeitnehmer wollte mit seiner Klage erreichen, dass ihm das Arbeiten aus dem Homeoffice gestattet wird und diese Homeoffice-Tätigkeit nur in Ausnahmefällen unterbrochen werden darf.

Das Arbeitsgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen. Ein Anspruch auf Arbeiten im Homeoffice ergebe sich weder aus dem Arbeitsvertrag noch aus § 2 Abs. 4 SARS-CoV-2-ArbSchV.

Aus § 106 S. 1 GewO lasse sich keine Pflicht des Arbeitgebers herleiten, sein Direktionsrechts im Rahmen billigen Ermessens in der gewünschten Weise auszuüben. Die Konkretisierung der Arbeitspflicht sei Sache des Arbeitgebers. Die allgemeine Gefahr, sich auf dem Weg zur Arbeit mit Covid-19 anzustecken und das allgemeinen Infektionsrisiko am Arbeitsort und in der Mittagspause würden einer Verpflichtung zum Erscheinen im Büro nicht entgegenstehen.

Das LAG München hat diese Entscheidung bestätigt. Es hat entschieden, dass ein Arbeitgeber, der seinem Arbeitnehmer gestattet hatte, seine Tätigkeit als Grafiker von zuhause aus zu erbringen, gemäß § 106 Satz 1 GewO grundsätzlich berechtigt ist, seine Weisung zu ändern, wenn sich später betriebliche Gründe herausstellen, die gegen eine Erledigung von Arbeiten im Homeoffice sprechen. Das LAG hat ausgeführt, dass der Arbeitgeber unter Wahrung billigen Ermessens den Arbeitsort durch Weisung neu bestimmen durfte. Der Arbeitsort war weder im Arbeitsvertrag noch kraft späterer ausdrücklicher oder stillschweigender Vereinbarung der Parteien auf die Wohnung des Verfügungsklägers festgelegt. Das Recht, die Arbeitsleistung von zuhause zu erbringen, habe im Februar 2021 auch nicht gem. § 2 Abs. 4 SARS-CoV-2-ArbSchVO bestanden.

Nach dem Willen des Verordnungsgebers vermittele diese Vorschrift kein subjektives Recht auf Homeoffice. Die Weisung habe billiges Ermessen gewahrt, da zwingende betriebliche Gründe der Ausübung der Tätigkeit in der Wohnung entgegenstanden. Die technische Ausstattung am häuslichen Arbeitsplatz habe nicht der am Bürostandort entsprochen und der Arbeitnehmer habe nicht dargelegt, dass die Daten gegen den Zugriff Dritter und der in Konkurrenz tätigen Ehefrau geschützt waren.

Das Urteil ist rechtskräftig.
(PM v. 31.08.2021)


 

Kopftuchverbot im Unternehmen: Unter bestimmten Umständen zulässig

15.07.2021  |  Wenn Neutralität vermittelt oder sozialer Friede gewahrt werden soll, kann Arbeitgeber das Tragen eines Kopftuches untersagen
(EuGH, Urteil vom 15.07.2021 – C-804/18, C-134/19) mehr


Der EuGH hat mit Urteil vom 15.07.2021 (C-804/18, C-341/19 - WABE und MH Müller Handel) folgendes entschieden:

Das Verbot des Tragens jeder sichtbaren Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen kann durch das Bedürfnis des Arbeitgebers gerechtfertigt sein, gegenüber den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln oder soziale Konflikte zu vermeiden.
Diese Rechtfertigung muss jedoch einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entsprechen, und die nationalen Gerichte können im Rahmen des Ausgleichs der in Rede stehenden Rechte und Interessen dem Kontext ihres jeweiligen Mitgliedstaats, und insbesondere den in Bezug auf den Schutz der Religionsfreiheit günstigeren nationalen Vorschriften, Rechnung tragen.

IX und MJ, die bei Gesellschaften deutschen Rechts als Heilerziehungspflegerin bzw. als Verkaufsberaterin und Kassiererin beschäftigt sind, trugen an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz ein islamisches Kopftuch. Da der Arbeitgeber von IX, der WABE e. V. (im Folgenden: WABE), der Ansicht war, dass das Tragen eines solchen Kopftuchs nicht der Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität gegenüber Eltern, Kindern und Dritten entspreche, forderte er sie auf, das Kopftuch abzulegen, und stellte sie auf ihre Weigerung hin zweimal von der Arbeit frei, wobei er sie abmahnte. Die Arbeitgeberin von MJ, die MH Müller Handels GmbH (im Folgenden: MH), wies MJ, nachdem diese es abgelehnt hatte, das Kopftuch an ihrem Arbeitsplatz abzulegen, zunächst eine andere Stelle zu, die es ihr erlaubte, das Kopftuch zu tragen, und erteilte ihr dann, nachdem sie sie nach Hause geschickt hatte, die Weisung, ohne auffällige großflächige Zeichen religiöser, politischer oder weltanschaulicher Überzeugungen an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen.

IX erhob beim Arbeitsgericht Hamburg Klage auf Verurteilung von WABE, die Abmahnungen wegen des Tragens des islamischen Kopftuchs aus ihrer Personalakte zu entfernen.
MJ erhob vor den nationalen Gerichten Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der von MH erteilten Weisung sowie auf Ersatz des erlittenen Schadens.

Nachdem die vorinstanzlichen Gerichte der Klage von MJ stattgegeben hatten, legte MH Revision zum Bundesarbeitsgericht ein. Vor diesem Hintergrund haben die beiden vorlegenden Gerichte beschlossen, den Gerichtshof um Auslegung der Richtlinie 2000/78 zu ersuchen. Insbesondere ist der Gerichtshof gefragt worden, ob eine interne Regel eines Unternehmens, die den Arbeitnehmern das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellt, unter welchen Voraussetzungen die etwaige mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus dieser Regel ergibt, gerechtfertigt sein kann, und welche Gesichtspunkte bei der Prüfung der Angemessenheit einer solchen Ungleichbehandlung zu berücksichtigen sind.
In seinem Urteil erläutert der Gerichtshof (Große Kammer) u. a., unter welchen Voraussetzungen eine sich aus einer solchen internen Regel ergebende mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung gerechtfertigt sein kann.

Würdigung durch den Gerichtshof:

Der Gerichtshof prüft in einem ersten Schritt im Zusammenhang mit der Rechtssache C-804/18, ob eine interne Regel eines Unternehmens, die den Arbeitnehmern das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsvorschriften befolgen, eine nach der Richtlinie 2000/78 verbotene unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung darstellt. Insoweit stellt er fest, dass das Tragen von Zeichen oder Kleidung zur Bekundung der eigenen Religion oder Überzeugung unter die „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ fällt. Für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2000/78 sind die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ die zwei Seiten ein und desselben Diskriminierungsgrundes.

Außerdem erinnert der Gerichtshof an seine Rechtsprechung, wonach eine solche Regel keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, da sie unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gilt und alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleichbehandelt, indem ihnen allgemein und undifferenziert vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt. Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass diese Feststellung nicht durch die Erwägung in Frage gestellt wird, dass einige Arbeitnehmer religiöse Gebote befolgen, die eine bestimmte Bekleidung vorschreiben. Die Anwendung einer internen Regel wie der oben genannten kann zwar solchen Arbeitnehmern besondere Unannehmlichkeiten bereiten, doch ändert dies nichts an der Feststellung, dass diese Regel, die Ausdruck einer Politik der Neutralität des Unternehmens ist, grundsätzlich keine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern einführt, die auf einem untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbundenen Kriterium beruht.

Im vorliegenden Fall scheint die in Rede stehende Regel allgemein und ohne jede Differenzierung angewandt worden zu sein, da der betreffende Arbeitgeber auch im Fall einer Arbeitnehmerin, die ein religiöses Kreuz trug, verlangt und erwirkt hat, dass sie dieses Zeichen ablegt. Der Gerichtshof gelangt zu dem Ergebnis, dass unter diesen Umständen eine Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung gegenüber Arbeitnehmern darstellt, die in Anwendung religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen.

In einem zweiten Schritt prüft der Gerichtshof, ob eine sich aus einer solchen internen Regel ergebende mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, um deren berechtigten Erwartungen Rechnung zu tragen. Er bejaht dies und benennt dabei die Voraussetzungen, von denen diese Schlussfolgerung abhängt.

Hierzu stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Wille eines Arbeitgebers, im Verhältnis zu den Kunden eine Politik der politischen, weltanschaulichen oder religiösen Neutralität zum Ausdruck zu bringen, ein rechtmäßiges Ziel darstellen kann. Allerdings reicht dieser bloße Wille für sich genommen nicht aus, um eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung sachlich zu rechtfertigen, da eine sachliche Rechtfertigung nur bei Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses dieses Arbeitgebers festgestellt werden kann. Die für die Feststellung eines solchen Bedürfnisses maßgeblichen Gesichtspunkte sind insbesondere die Rechte und berechtigten Erwartungen der Kunden oder Nutzer, und speziell für den Bereich des Unterrichts der Wunsch von Eltern, dass ihre Kinder von Personen beaufsichtigt werden, die im Kontakt mit den Kindern nicht ihre Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck bringen. Für die Beurteilung, ob ein wirkliches Bedürfnis besteht, ist es von besonderer Bedeutung, dass der Arbeitgeber nachgewiesen hat, dass ohne eine solche Politik der Neutralität seine unternehmerische Freiheit5 beeinträchtigt würde, da er angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem diese ausgeübt wird, nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte. Sodann stellt der Gerichtshof klar, dass die Ungleichbehandlung geeignet sein muss, die ordnungsgemäße Anwendung dieser Neutralitätspolitik zu gewährleisten, was voraussetzt, dass diese Politik konsequent und systematisch befolgt wird. Schließlich muss das Verbot, ein sichtbares Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz zu tragen, auf das beschränkt sein, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch ein solches Verbot zu entgehen sucht, unbedingt erforderlich ist.

In einem dritten Schritt prüft der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Rechtssache C-341/19, ob eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die es verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen zu tragen, um eine Neutralitätspolitik in diesem Unternehmen sicherzustellen, nur dann gerechtfertigt sein kann, wenn ein solches Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen umfasst, oder ob ein auf auffällige großflächige Zeichen beschränktes Verbot genügt, sofern es in kohärenter und systematischer Weise durchgesetzt wird.

Hierzu stellt er fest, dass solch ein begrenztes Verbot geeignet ist, Personen, die religiösen oder weltanschaulichen Strömungen anhängen, die das Tragen eines großen Kleidungsstücks oder Zeichens, wie beispielsweise einer Kopfbedeckung, vorsehen, stärker zu beeinträchtigen.

So wird in den Fällen, in denen das Kriterium des Tragens auffälliger großflächiger Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen mit einer oder mehreren bestimmten Religion(en) oder Weltanschauung(en) untrennbar verbunden ist, das von einem Arbeitgeber seinen Arbeitnehmern auf der Grundlage eines solchen Kriteriums auferlegte Verbot, diese Zeichen zu tragen, zur Folge haben, dass einige Arbeitnehmer wegen ihrer Religion oder Weltanschauung weniger günstig behandelt werden als andere. Dies stellt eine unmittelbare Diskriminierung dar, die nicht gerechtfertigt werden kann. Für den Fall, dass keine unmittelbare Diskriminierung festgestellt werden sollte, weist der Gerichtshof darauf hin, dass eine Ungleichbehandlung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende dann, wenn erwiesen wäre, dass sie tatsächlich zu einer besonderen Benachteiligung der Personen führt, die einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen, eine mittelbare Diskriminierung darstellen würde, die nur gerechtfertigt sein kann, wenn das Verbot jede sichtbare Ausdrucksform politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erfasst.

Er erinnert insoweit daran, dass eine Neutralitätspolitik innerhalb des Unternehmens ein rechtmäßiges Ziel darstellen kann und einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens entsprechen muss, wie beispielsweise die Verhinderung sozialer Konflikte oder ein neutrales Auftreten des Arbeitgebers gegenüber den Kunden, um eine mittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung sachlich zu rechtfertigen. Eine Politik der Neutralität im Unternehmen kann aber nur dann wirksam verfolgt werden, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt sind, wenn die Arbeitnehmer mit Kunden oder untereinander in Kontakt stehen, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Regel zur Erreichung des verfolgten Ziels beeinträchtigt. In einem vierten Schritt entscheidet der Gerichtshof, dass nationale Vorschriften, die die Religionsfreiheit schützen, bei der Prüfung der Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung angemessen ist, als günstigere Vorschriften6 berücksichtigt werden dürfen.

Insoweit erinnert er als Erstes daran, dass bei der Prüfung, ob die Beschränkung, die sich aus einer Maßnahme zur Gewährleistung einer Politik der politischen, weltanschaulichen und religiösen Neutralität ergibt, im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der Richtlinie 2000/78 angemessen ist, die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen sind und dass es Sache der nationalen Gerichte ist, in Anbetracht aller sich aus den betreffenden Akten ergebenden Umstände den beiderseitigen Interessen Rechnung zu tragen und die Beschränkungen der in Rede stehenden Freiheiten auf das unbedingt Erforderliche zu begrenzen. Dadurch kann gewährleistet werden, dass dann, wenn mehrere in den Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze in Rede stehen, bei der Beurteilung der Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die mit dem Schutz der verschiedenen Rechte und Grundsätze verbundenen Anforderungen miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht. Als

Zweites stellt es fest, dass der Unionsgesetzgeber es dadurch, dass er in der Richtlinie 2000/78 nicht selbst den erforderlichen Einklang zwischen der Gedanken-, der Weltanschauungs- und der Religionsfreiheit und den rechtmäßigen Zielen, die zur Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung geltend gemacht werden können, hergestellt hat, sondern es den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten überlassen hat, diesen Einklang herzustellen, erlaubt hat, dem jeweiligen Kontext der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen und jedem Mitgliedstaat im Rahmen dieses Ausgleichs einen Wertungsspielraum einzuräumen.
(PM 128/21 v. 15.07.2021)


 

Kein „forum shopping“ ausländischer Leiharbeitsfirmen: Recht am Sitz der Entleiherfirma gilt

03.06.2021  |  Ausstellung der sog. A 1-Bescheinigung über das anzuwendende Arbeitsrecht: „gewöhnlicher Arbeitsort“ setzt nennenswerte Tätigkeit des Leiharbeitsunternehmens in dem Land voraus - keine Wahlmöglichkeit nach "günstigstem" Arbeitsrecht
(EuGH, Urteil vom 03.06.2021 - C-784/19) mehr


Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 03.06.2021 (C-784/19) folgendes entschieden:

Um als in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig“ angesehen werden zu können, muss ein Leiharbeitsunternehmen einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Arbeitnehmern für entleihende Unternehmen verrichten, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind.

Die Tätigkeit der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern im Mitgliedstaat des Sitzes des Leiharbeitsunternehmens reicht nicht aus, um annehmen zu können, dass dieses Unternehmen dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt.

Gründe:
Im Jahr 2018 schloss ein bulgarischer Staatsangehöriger einen Arbeitsvertrag mit Team Power Europe, einer Gesellschaft bulgarischen Rechts, deren Gesellschaftszweck in der Verschaffung von Leiharbeit und der Vermittlung von Arbeitsuchenden in diesem Mitgliedstaat und in anderen Ländern besteht. Aufgrund dieses Vertrags wurde er einem in Deutschland ansässigen entleihenden Unternehmen überlassen. Vom 15. Oktober bis 21. Dezember 2018 hatte er seine Arbeit unter der Leitung und Aufsicht dieses deutschen Unternehmens zu verrichten.

Da die Einnahmenverwaltung der Stadt Varna der Ansicht war, dass zum einen die direkte Bindung zwischen Team Power Europe und dem fraglichen Arbeitnehmer nicht aufrechterhalten worden sei und zum anderen dieses Unternehmen keine nennenswerte Tätigkeit im bulgarischen Hoheitsgebiet ausübe, lehnte sie den Antrag von Team Power Europe auf Ausstellung einer sog. A 1- Bescheinigung ab, mit der bescheinigt werden sollte, dass die bulgarischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit während des Zeitraums der Überlassung dieses Arbeitnehmers anwendbar seien. Die Situation dieses Arbeitnehmers fiel nach Auffassung der Einnahmenverwaltung nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/20041, wonach die bulgarischen Rechtsvorschriften anwendbar gewesen wären.

Der von Team Power Europe gegen diese Entscheidung der Einnahmenverwaltung eingelegte Widerspruch wurde zurückgewiesen. Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad – Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien), bei dem eine Klage auf Aufhebung der Zurückweisung dieses Widerspruchs anhängig ist, beschlossen, den Gerichtshof nach den maßgebenden Kriterien zu fragen, die zu berücksichtigen sind, um zu beurteilen, ob ein Leiharbeitsunternehmen im Sinne von Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/20092 , durch den Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 präzisiert wird, gewöhnlich andere nennenswerte Tätigkeiten als reine interne Verwaltungstätigkeiten im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats seines Sitzes ausübt. Von der Erfüllung dieser Voraussetzung durch Team Power Europa hängt nämlich die Anwendbarkeit der letztgenannten Bestimmung in der vorliegenden Rechtssache ab.

In seinem Urteil hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Leiharbeitsunternehmen die Tragweite des in dieser Bestimmung enthaltenen und in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 präzisierten Begriffs des Arbeitgebers, der in einem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig ist“, erläutert.

Würdigung durch den Gerichtshof:

Der Gerichtshof hat zunächst eine wörtliche Auslegung des genannten Art. 14 Abs. 2 vorgenommen und festgestellt, dass ein Leiharbeitsunternehmen dadurch gekennzeichnet ist, dass es eine Reihe von Tätigkeiten ausübt, die in der Auswahl, der Einstellung und der Überlassung von Leiharbeitnehmern an entleihende Unternehmen bestehen.

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass zwar die Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern nicht als „reine interne Verwaltungstätigkeiten“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden können, dass aber die Ausübung dieser Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem ein solches Unternehmen ansässig ist, nicht ausreicht, um annehmen zu können, dass es dort „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt. Einziger Zweck der Tätigkeiten der Auswahl und der Einstellung von Leiharbeitnehmern ist nämlich deren spätere Überlassung an entleihende Unternehmen.

Der Gerichtshof hat insoweit darauf hingewiesen, dass die Auswahl und die Einstellung von Leiharbeitnehmern zwar dazu beitragen, den von einem Leiharbeitsunternehmen erzielten Umsatz zu generieren, da diese Tätigkeiten eine unerlässliche Voraussetzung für die spätere Überlassung solcher Arbeitskräfte sind, dass dieser Umsatz tatsächlich aber nur durch die Überlassung dieser Arbeitnehmer an entleihende Unternehmen in Erfüllung der zu diesem Zweck mit diesen Unternehmen geschlossenen Verträge erwirtschaftet wird. Denn die Einkünfte eines Leiharbeitsunternehmens hängen von der Höhe der Vergütung ab, die den Leiharbeitnehmern, die entleihenden Unternehmen überlassen wurden, gezahlt wird.

Was sodann den Zusammenhang betrifft, in dem die in Rede stehende Bestimmung steht, hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass der Fall, dass ein Arbeitnehmer, der zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats unterliegt, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel darstellt, wonach eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt. Folglich ist die Bestimmung, die einen solchen Fall regelt, eng auszulegen.

Unter diesem Blickwinkel kann diese Ausnahme nicht auf ein Leiharbeitsunternehmen angewandt werden, das im Mitgliedstaat seines Sitzes in keiner oder allenfalls in zu vernachlässigender Weise diese Arbeitnehmer an ebenfalls dort ansässige entleihende Unternehmen überlässt. Im Übrigen stützen die Definitionen der Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“ und „Leiharbeitnehmer“ in der Richtlinie 2008/1044 , da sie den Zweck der Tätigkeit eines Leiharbeitsunternehmens zum Ausdruck bringen, ebenfalls die Auslegung, dass bei einem solchen Unternehmen nur dann angenommen werden kann, dass es in dem Mitgliedstaat, in dem es ansässig ist, „nennenswerte Tätigkeiten“ ausübt, wenn es dort in nennenswertem Umfang Tätigkeiten der Überlassung dieser Arbeitnehmer für im selben Mitgliedstaat tätige entleihende Unternehmen ausübt.

Was schließlich das mit der in Rede stehenden Bestimmung verfolgte Ziel betrifft, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 enthaltene Ausnahme, die einen Vorteil für Unternehmen darstellt, die von der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs Gebrauch machen, nicht von Leiharbeitsunternehmen beansprucht werden kann, die ihre Tätigkeiten der Überlassung von Leiharbeitnehmern ausschließlich oder hauptsächlich auf einen oder mehrere andere Mitgliedstaaten als den ihres Sitzes ausrichten. Die gegenteilige Lösung könnte für diese Leiharbeitsunternehmen einen Anreiz für ein „forum shopping“ schaffen, indem sie sich in dem Mitgliedstaat niederlassen würden, dessen Rechtsvorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit für sie am günstigsten wären. Auf längere Sicht könnte eine solche Lösung zu einer Verringerung des von den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten gebotenen Schutzniveaus führen.

Der Gerichtshof hat zudem hervorgehoben, dass die Gewährung dieses Vorteils an solche Unternehmen zwischen den verschiedenen möglichen Beschäftigungsbedingungen eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten des Einsatzes von Leiharbeit gegenüber Unternehmen erzeugen würde, die ihre Arbeitnehmer direkt einstellen, die dann dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem sie arbeiten, angeschlossen wären.

Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Leiharbeitsunternehmen nur dann als in diesem Mitgliedstaat „gewöhnlich tätig“ angesehen werden kann, wenn es einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern für entleihende Unternehmen ausübt, die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats niedergelassen und dort tätig sind.
(PM 92/21)


 

Compliance-Verstöße: Arbeitnehmer hat Ermittlungskosten grundsätzlich zu ersetzen

29.04.2021  |  Unredlicher Beschäftigter hat dem Arbeitgeber Schadensersatz für Ermittlungsaufwand zu leisten - aber nur, soweit Kosten  substantiiert, zweckdienlich und erforderlich sind
(BAG, Urteil vom 29.04.2021 - 8 AZR 276/20) mehr

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 29.04.2021 (8 AZR 276/20) folgendes entschieden:

Sofern ein konkreter Verdacht einer erheblichen Verfehlung des Arbeitnehmers vorliegt, gehören auch die zur Abwendung drohender Nachteile notwendigen Aufwendungen des Geschädigten zu dem nach § 249 BGB zu ersetzenden Schaden. Die Grenze der Ersatzpflicht richtet sich nach dem, was ein vernünftiger, wirtschaftlich denkender Mensch nach den Umständen des Falles zur Beseitigung der Störung oder zur Schadensverhütung nicht nur als zweckmäßig, sondern als erforderlich getan haben würde.

Die Parteien streiten im Revisionsverfahren noch darüber, ob der Kläger der Beklagten zum Ersatz von Anwaltskosten iHv. 66.500,00 Euro für Ermittlungen im Zusammenhang mit Vorwürfen des Spesenbetrugs, des Abrechnungsbetrugs und von Compliance-Verstößen verpflichtet ist.

Der Kläger war bei der Beklagten als Leiter des Zentralbereichs Einkauf und Mitglied einer Führungsebene zu einem Jahresbruttogehalt iHv. zuletzt ca. 450.000,00 Euro tätig. Nachdem bei der Beklagten mehrere anonyme Verdachtsmeldungen wegen eventueller Compliance-Verstöße des Klägers eingegangen waren, traf das bei dieser zuständige Gremium die Entscheidung, eine Untersuchung unter Einschaltung einer auf die Durchführung von Compliance-Ermittlungen spezialisierten Anwaltskanzlei durchzuführen. Die Kanzlei legte einen Untersuchungsbericht vor, nach dem der Kläger ua. auf Kosten der Beklagten Personen ohne dienstliche Veranlassung zum Essen eingeladen sowie gegenüber der Beklagten Reisekosten für von ihm unternommene Fahrten zu Champions-League-Spielen des FC Bayern München abgerechnet hatte. Die Tickets für die Spiele hatte der Kläger auf Anforderung von Geschäftspartnern der Beklagten erhalten. Die Anwaltskanzlei stellte der Beklagten für ihre Tätigkeit ausgehend von einem Stundenhonorar iHv. 350,00 Euro insgesamt 209.679,68 Euro in Rechnung.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis gegenüber dem Kläger daraufhin fristlos, hilfsweise ordentlich wegen Verstoßes gegen das sog. Schmiergeldverbot, Abrechnung privater Auslagen auf Kosten der Beklagten und mehrfachen Spesenbetrugs. Gegen die Kündigung hat der Kläger Kündigungsschutzklage erhoben, die rechtskräftig abgewiesen wurde.
Mit ihrer Widerklage hat die Beklagte den Kläger auf Ersatz der ihr von der Anwaltskanzlei in Rechnung gestellten Ermittlungskosten in Anspruch genommen und dies damit begründet, der Kläger habe diese Kosten nach den vom Bundesarbeitsgericht für die Erstattung von Detektivkosten aufgestellten Grundsätzen zu ersetzen. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dem geltend gemachten Schadensersatzanspruch stehe die Regelung in § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG entgegen. Zudem habe die Beklagte die Erforderlichkeit der Kosten nicht dargetan.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das arbeitsgerichtliche Urteil teilweise abgeändert und der Beklagten 66.500,00 Euro zugesprochen. Es hat angenommen, die Beklagte könne die Kosten ersetzt verlangen, die ihr durch die Tätigkeit der Anwaltskanzlei bis zum Ausspruch der Kündigung entstanden seien. Mit der Revision begehrt der Kläger die vollständige Abweisung der Widerklage.
Die Revision des Klägers war vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolgreich. Zwar kann ein Arbeitgeber vom Arbeitnehmer die durch das Tätigwerden einer spezialisierten Anwaltskanzlei entstandenen notwendigen Kosten ersetzt verlangen, wenn er die Anwaltskanzlei anlässlich eines konkreten Verdachts einer erheblichen Verfehlung des Arbeitnehmers mit Ermittlungen gegen diesen beauftragt hat und der Arbeitnehmer einer schwerwiegenden vorsätzlichen Vertragspflichtverletzung überführt wird. Sofern ein konkreter Verdacht einer erheblichen Verfehlung des Arbeitnehmers vorliegt, gehören auch die zur Abwendung drohender Nachteile notwendigen Aufwendungen des Geschädigten zu dem nach § 249 BGB zu ersetzenden Schaden. Die Grenze der Ersatzpflicht richtet sich nach dem, was ein vernünftiger, wirtschaftlich denkender Mensch nach den Umständen des Falles zur Beseitigung der Störung oder zur Schadensverhütung nicht nur als zweckmäßig, sondern als erforderlich getan haben würde. Dem steht § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG, der als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen, sondern auch einen materiellen Kostenerstattungsanspruch ausschließt, nicht entgegen. Diese Bestimmung findet in einem solchen Fall keine Anwendung.

Die Beklagte hat jedoch nicht dargelegt, dass die von ihr geltend gemachten Kosten erforderlich waren. Es fehlt an einer substantiierten Darlegung, welche konkreten Tätigkeiten bzw. Ermittlungen wann und in welchem zeitlichen Umfang wegen welchen konkreten Verdachts gegen den Kläger von der beauftragten Anwaltskanzlei ausgeführt wurden.
(PM Nr. 11/21)

 

Arbeitszeit bzw. Ruhezeit: nur ein „Entweder-oder“ möglich

17.03.2021  |  Bei mehreren Arbeitsverträgen: Summe der Arbeitszeiten für die Einhaltung der Mindestruhezeit von 11 Stunden maßgeblich - EuGH zum Begriff der "Arbeitszeit"
(EuGH, Urteil vom 17.03.2021 – C-585/19) mehr

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 17.03.2021 (C 585/19) folgendes entschieden:

Hat ein Arbeitnehmer mit demselben Arbeitgeber mehrere Arbeitsverträge geschlossen, gilt die tägliche Mindestruhezeit für die Verträge zusammen genommen und nicht für jeden der Verträge für sich genommen.

Die Academia de Studii Economice din Bucureşti (ASE) (Akademie für wirtschaftswissenschaftliche Studiengänge Bukarest, Rumänien) erhielt eine von den rumänischen Behörden gewährte nicht rückzahlbare europäische Finanzierung für die Durchführung eines sektoriellen operationellen Programms zur Personalentwicklung mit dem Titel „Leistung und Exzellenz in der Postdoktoranden-Forschung in den Wirtschaftswissenschaften in Rumänien“.

Am 4. Juni 2018 belastete das Ministerul Educaţiei Naţionale (Ministerium für Bildung, Rumänien) die ASE mit einer Haushaltsforderung in Höhe von 13.490,42 rumänischen Lei (RON) (ungefähr 2.800 Euro), die Gehaltskosten für Arbeitnehmer der Arbeitsgruppe zur Durchführung des Projekts entsprach. Die diesen Kosten entsprechenden Beträge wurden für nicht erstattungsfähig erklärt, weil die Höchststundenzahl (13 Stunden), die diese Arbeitnehmer täglich arbeiten können, überschritten worden war.

In der Zeit von Oktober 2012 bis Januar 2013 hätten bei der ASE beschäftigte Sachverständige nämlich aufgrund von mehreren Arbeitsverträgen an bestimmten Tagen die im Rahmen der Regelarbeitszeit gearbeiteten Stunden, d. h. 8 Stunden pro Tag, mit den im Rahmen des Projekts oder im Rahmen von anderen Projekten oder Tätigkeiten gearbeiteten Stunden kumuliert. Die Gesamtzahl der pro Tag geleisteten Arbeitsstunden habe für diese Sachverständigen die in den Anweisungen der das Projekt verwaltenden Behörde vorgesehene Obergrenze von 13 Stunden pro Tag überschritten.

Das mit der Rechtssache befasste Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest) fragt den Gerichtshof, ob die in Art. 3 der Arbeitszeitrichtlinie2 vorgesehene tägliche Mindestruhezeit, wenn ein Arbeitnehmer mit demselben Arbeitgeber mehrere Arbeitsverträge geschlossen hat, für diese Verträge zusammen genommen oder für jeden dieser Verträge für sich genommen gilt.

Mit seinem Urteil vom heutigen Tage weist der Gerichtshof erstens darauf hin, dass das Recht eines jeden Arbeitnehmers auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf ‒ insbesondere tägliche ‒ Ruhezeiten, nicht nur eine Regel des Sozialrechts der Union ist, die besondere Bedeutung hat, sondern auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ausdrücklich verbürgt ist.

Der Gerichtshof führt insoweit aus, dass die Arbeitszeitrichtlinie den Begriff „Arbeitszeit“ definiert als jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit „jedem Arbeitnehmer“ pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden gewährt wird.

Im Übrigen ist die „Ruhezeit“ als jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit definiert. „Ruhezeit“ und „Arbeitszeit“ sind somit Begriffe, die einander ausschließen, und die Arbeitszeitrichtlinie sieht keine Zwischenkategorie zwischen den Arbeitszeiten und den Ruhezeiten vor.

Die Anforderung der Arbeitszeitrichtlinie, dass jedem Arbeitnehmer täglich mindestens elf zusammenhängende Ruhestunden gewährt werden, kann jedoch nicht erfüllt werden, wenn diese Ruhezeiten für jeden Vertrag zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber getrennt geprüft werden.

In einem solchen Fall könnten die Stunden, die im Rahmen eines Vertrags als Ruhezeiten angesehen werden, nämlich, wie in der dem Gerichtshof vorgelegten Rechtssache, im Rahmen eines anderen Vertrags Arbeitszeiten darstellen. Da jedoch ein und derselbe Zeitraum nicht gleichzeitig als Arbeitszeit und als Ruhezeit eingestuft werden kann, sind die Arbeitsverträge, die ein Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber geschlossen hat, folglich zusammen zu prüfen.

Diese Auslegung wird auch durch das Ziel der Richtlinie bestätigt, das darin besteht, Mindestvorschriften festzulegen, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern. Mit diesem Ziel soll ein besserer Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer gewährleistet werden, indem diesen – u. a. tägliche – Mindestruhezeiten gewährt werden.
Der Gerichtshof ist daher der Ansicht, dass die tägliche Mindestruhezeit, wenn ein Arbeitnehmer mit demselben Arbeitgeber mehrere Arbeitsverträge geschlossen hat, für diese Verträge zusammen genommen und nicht für jeden dieser Verträge für sich genommen gilt.
(PM 41/21 v. 17.03.2021)

 

Rufbereitschaft: dann Arbeitszeit, wenn Freizeit-Einschränkungen „ganz erheblich"

09.03.2021  |  Ist Gestaltung der freien Zeit objektiv ganz erheblich beschränkt, dann stellt auch (gesamte) Rufbereitschaftszeit Arbeitszeit dar – Schwierigkeiten bei der Organisation von Freizeit und Bereitschaft sind unerheblich
(EuGH, Urteile vom 09.03.2021 - C-580/19 u.a.) mehr

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteilen vom 09.03.2021 (Rechtssachen C-580/19 u.a., RJ ./. Stadt Offenbach am Main u.a.) folgendes entschieden:

Eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft stellt nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit dar, wenn die dem Arbeitnehmer auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, während dieser Zeit seine Freizeit zu gestalten, ganz erheblich beeinträchtigen. Organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, sind unerheblich.

In der Rechtssache C-580/19 war ein Beamter in der Stadt Offenbach am Main (Deutschland) als Feuerwehrmann tätig. Neben seiner regulären Dienstzeit musste er regelmäßig Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft leisten. Während dieser Zeiten war er nicht verpflichtet, sich an einem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, musste aber erreichbar und in der Lage sein, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu erreichen.

In der Rechtssache C-344/19 war ein spezialisierter Techniker damit betraut, während mehrerer aufeinanderfolgender Tage den Betrieb von Fernsehsendeanlagen in den slowenischen Bergen sicherzustellen. Neben seinen zwölf Stunden regulärer Arbeitszeit leistete er täglich sechs Stunden Bereitschaftsdienst in Form von Rufbereitschaft. Während dieser Zeiträume war er nicht verpflichtet, in der betreffenden Sendeanlage zu bleiben, musste aber telefonisch erreichbar und in der Lage sein, erforderlichenfalls innerhalb einer Stunde dorthin zurückzukehren. De facto war er in Anbetracht der geografischen Lage der schwer zugänglichen Sendeanlagen gezwungen, sich während seiner Bereitschaftsdienste ohne große Freizeitmöglichkeiten in einer von seiner Arbeitgeberin zur Verfügung gestellten Dienstunterkunft aufzuhalten.

Die beiden Betroffenen waren der Ansicht, dass ihre in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftszeiten aufgrund der mit ihnen verbundenen Einschränkungen in vollem Umfang als Arbeitszeit anzuerkennen und entsprechend zu vergüten seien, unabhängig davon, ob sie während dieser Zeiten tatsächlich tätig waren. Der erste Betroffene erhob Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland), nachdem sein Arbeitgeber seinem Antrag nicht entsprochen hatte. Der zweite Betroffene legte, nachdem seine Klage in erster und zweiter Instanz abgewiesen worden war, Revision beim Vrhovno sodisce (Oberster Gerichtshof, Slowenien) ein.

Der Gerichtshof, der mit zwei Vorabentscheidungsersuchen dieser Gerichte befasst ist, stellt in zwei Urteilen der Großen Kammer insbesondere klar, inwieweit Bereitschaftszeiten in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sind.

Würdigung durch den Gerichtshof:

Einleitend weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen ist, da beide Begriffe einander ausschließen. Außerdem stellt eine Zeitspanne, in der ein Arbeitnehmer tatsächlich keine Tätigkeit für seinen Arbeitgeber ausübt, nicht zwangsläufig eine „Ruhezeit“ dar.

So geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs insbesondere hervor, dass eine Bereitschaftszeit automatisch als „Arbeitszeit“ einzustufen ist, wenn der Arbeitnehmer während dieser Zeit verpflichtet ist, an seinem Arbeitsplatz, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist, zu bleiben und sich dort seinem Arbeitgeber zur Verfügung zu halten.

Nach diesen Klarstellungen entscheidet der Gerichtshof erstens, dass Bereitschaftszeiten, einschließlich Zeiten in Form von Rufbereitschaft, auch dann in vollem Umfang unter den Begriff „Arbeitszeit“ fallen, wenn die dem Arbeitnehmer während dieser Zeiten auferlegten Einschränkungen seine Möglichkeit, die Zeit, in der seine beruflichen Dienste nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Umgekehrt ist, wenn es keine solchen Einschränkungen gibt, nur die Zeit als „Arbeitszeit“ anzusehen, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden ist.

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass bei der Beurteilung, ob eine Bereitschaftszeit „Arbeitszeit“ darstellt, nur Einschränkungen berücksichtigt werden können, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden. Dagegen sind organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann, unerheblich. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn das Gebiet, das der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft praktisch nicht verlassen kann, nur wenige Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten bietet.

Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob eine Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft als „Arbeitszeit“ einzustufen ist; dies ist nämlich, wenn keine Verpflichtung besteht, am Arbeitsplatz zu bleiben, nicht automatisch der Fall.

Zu diesem Zweck ist zum einen zu berücksichtigen, ob die Frist sachgerecht ist, innerhalb deren der Arbeitnehmer nach der Aufforderung durch seinen Arbeitgeber die Arbeit aufzunehmen hat, wozu er sich in der Regel an seinen Arbeitsplatz begeben muss. Die Folgen einer solchen Frist sind jedoch anhand des konkreten Falls zu beurteilen, wobei nicht nur weitere dem Arbeitnehmer auferlegte Einschränkungen wie die Verpflichtung, mit einer speziellen Ausrüstung am Arbeitsplatz zu erscheinen, zu berücksichtigen sind, sondern auch ihm gewährte Erleichterungen. Solche Erleichterungen können beispielsweise in der Bereitstellung eines Dienstfahrzeugs bestehen, mit dem von Sonderrechten gegenüber der Straßenverkehrsordnung Gebrauch gemacht werden kann. Zum anderen müssen die nationalen Gerichte die durchschnittliche Häufigkeit der von einem Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten geleisteten Einsätze berücksichtigen, sofern insoweit eine objektive Schätzung möglich ist.

Zweitens stellt der Gerichtshof fest, dass die Art und Weise der Vergütung von Arbeitnehmern für Bereitschaftszeiten nicht der Richtlinie 2003/88 unterliegt. Sie steht daher der Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften, eines Tarifvertrags oder einer Entscheidung des Arbeitgebers nicht entgegen, wonach bei der Vergütung Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird, in unterschiedlicher Weise berücksichtigt werden, selbst wenn diese Zeiten in vollem Umfang als „Arbeitszeit“ anzusehen sind. Umgekehrt steht es der Richtlinie 2003/88 ebenfalls nicht entgegen, wenn Bereitschaftszeiten, die nicht als „Arbeitszeit“ eingestuft werden können, in Form der Zahlung eines zum Ausgleich der dem Arbeitnehmer durch sie verursachten Unannehmlichkeiten dienenden Betrags vergütet werden.

Drittens führt der Gerichtshof aus, dass die Einstufung einer nicht als „Arbeitszeit“ anzusehenden Bereitschaftszeit als „Ruhezeit“ die besonderen Pflichten unberührt lässt, die den Arbeitgebern nach der Richtlinie 89/3912 obliegen. Insbesondere dürfen die Arbeitgeber keine Bereitschaftszeiten einführen, die so lang oder so häufig sind, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit der Arbeitnehmer darstellen, unabhängig davon, ob sie als „Ruhezeiten“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 einzustufen sind.
(PM 35/21 v. 09.03.2021)

 

Kein gleiches Gehalt trotz gleichwertiger Arbeit: Schadensersatz

21.01.2021  |  Wird weniger Entgelt bei gleichwertiger Arbeit gezahlt, lässt dies eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermuten - Differenz ist als Schadensersatz zu leisten
(BAG, Urteil vom 21.01.2021 - 8 AZR 488/19) mehr

Das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 21.01.2021 (8 AZR 488/19) folgendes entschieden:

Klagt eine Frau auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit (Art. 157 AEUV, § 3 Abs. 1 und § 7 EntgTranspG), begründet der Umstand, dass ihr Entgelt geringer ist als das vom Arbeitgeber nach §§ 10 ff. EntgTranspG mitgeteilte Vergleichsentgelt (Median-Entgelt) der männlichen Vergleichsperson, regelmäßig die - vom Arbeitgeber widerlegbare - Vermutung, dass die Benachteiligung beim Entgelt wegen des Geschlechts erfolgt ist.

Die Klägerin ist bei der Beklagten als Abteilungsleiterin beschäftigt. Sie erhielt im August 2018 von der Beklagten eine Auskunft nach §§ 10 ff. EntgTranspG, aus der ua. das Vergleichsentgelt der bei der Beklagten beschäftigten männlichen Abteilungsleiter hervorgeht. Angegeben wurde dieses entsprechend den Vorgaben von § 11 Abs. 3 EntgTranspG als "auf Vollzeitäquivalente hochgerechneter statistischer Median" des durchschnittlichen monatlichen übertariflichen Grundentgelts sowie der übertariflichen Zulage (Median-Entgelte). Das Vergleichsentgelt liegt sowohl beim Grundentgelt als auch bei der Zulage über dem Entgelt der Klägerin.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Beklagte u.a. auf Zahlung der Differenz zwischen dem ihr gezahlten Grundentgelt sowie der ihr gezahlten Zulage und der ihr mitgeteilten höheren Median-Entgelte für die Monate August 2018 bis Januar 2019 in Anspruch genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung der Beklagten abgeändert und die Klage abgewiesen. Es hat angenommen, es lägen schon keine ausreichenden Indizien iSv. § 22 AGG vor, die die Vermutung begründeten, dass die Klägerin die Entgeltbenachteiligung wegen des Geschlechts erfahren habe.

Die Revision der Klägerin hatte vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung durfte die Klage nicht abgewiesen werden. Aus der von der Beklagten erteilten Auskunft ergibt sich das Vergleichsentgelt der maßgeblichen männlichen Vergleichsperson. Nach den Vorgaben des EntgTranspG liegt in der Angabe des Vergleichsentgelts als Median-Entgelt durch einen Arbeitgeber zugleich die Mitteilung der maßgeblichen Vergleichsperson, weil entweder ein konkreter oder ein hypothetischer Beschäftigter des anderen Geschlechts dieses Entgelt für gleiche bzw. gleichwertige Tätigkeit erhält. Die Klägerin hat gegenüber der ihr von der Beklagten mitgeteilten männlichen Vergleichsperson eine unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 2 Satz 1 EntgTranspG erfahren, denn ihr Entgelt war geringer als das der Vergleichsperson gezahlte. Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts begründet dieser Umstand zugleich die - von der Beklagten widerlegbare - Vermutung, dass die Klägerin die Entgeltbenachteiligung "wegen des Geschlechts" erfahren hat.

Aufgrund der bislang vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen konnte der Senat nicht entscheiden, ob die Beklagte, die insoweit die Darlegungs- und Beweislast trifft, diese Vermutung den Vorgaben von § 22 AGG in unionsrechtskonformer Auslegung entsprechend widerlegt hat. Zugleich ist den Parteien Gelegenheit zu weiterem Vorbringen zu geben. Dies führte zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht.
(PM 1/21)

 
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